Nicht wegwerfen!
Corona bringt viele dazu aufzuräumen. Wer aussortierte Dinge ins Brocki bringt, leistet Widerstand gegen die Wegwerfgesellschaft. Im Fall des Bärner Brockis schafft
man damit auch berufliche Perspektiven.
ten von uns der Radius markant verkleinert haben. Homeoffice ist empfohlen oder Pflicht, soziale Kontakte sollen so stark wie möglich eingeschränkt werden, Restaurants und Läden sind geschlossen, ebenso die Fitnesscenter und Yogastudios, und das Kulturleben steht still. Wir verbringen plötzlich sehr viel Zeit zuhause. Wieso also diese Zeit nicht zum Anlass nehmen, um mal wieder vom Keller bis in den Estrich aufzuräumen und auszumisten? Aber halt: Nicht einfach wegwerfen! Die Dinge, die wir loswerden wollen, haben in den meisten Fällen für jemand anders noch einen Wert.
Auf dieser Grundüberlegung basieren Brockenhäuser. Sie nehmen Dinge an, die nicht mehr gebraucht werden, um sie für wenig Geld weiterzuverkaufen. Mancherorts steckt aber noch mehr dahinter. So im Bärner Brocki, dem ältesten Brockenhaus der Schweiz.
Brocki im Lockdown
In der ehemaligen Auto-Garage im Berner Lorraine-Quartier ist es still an diesem Morgen. Tausende, Zehntausende Gegenstände (nein, es müssen Hunderttausende sein!) scheinen darauf zu warten, dass sie jemand kauft. Blusen, an Ständern aufgereiht, Gitarren, an der Wand aufgehängt, Bücher, sortiert im Gestell. Doch es kommt niemand. Das Bärner Brocki ist geschlossen – Lockdown.
Bernhard Müller, der Leiter des Brockis, hat die letzte Woche damit verbracht, den Betrieb «herunterzufahren», wie er sagt. Weil es bereits das zweite Mal ist, war das etwas einfacher. Trotzdem: Die Arbeit von rund hundert Mitarbeitenden musste umorganisiert werden. Für einen Teil von ihnen konnte Müller Kurzarbeit anmelden, aber nicht für alle. «Der eigentliche Auftrag des Bärner Brockis ist es, Menschen, die aus psychischen Gründen herausgefordert sind, eine berufliche Perspektive zu geben», sagt er. Und diese sei gerade in Krisenzeiten speziell wichtig. «Die Tagesstruktur ist für viele unserer Mitarbeitenden essenziell.»
Geeignet für berufliche Integration
Die berufliche Integration war bereits bei der Entstehung vor 125 Jahren der Zweck des Bärner Brockis, das vom «Verein zur Unterstützung durch Arbeit» gegründet wurde. Heute ist das Brocki Teil der Stiftung GEWA, zu der Betriebe für berufliche Integration und wirtschaftliche Dienstleistungen in verschiedenen Branchen gehören. Das Gefäss der Brockenstube eigne sich sehr gut für die berufliche Integration, weil man hier Menschen mit sehr unterschiedlichen Gaben einsetzen könne, so Müller. Es sei ja nicht so, dass die Gegenstände von der Warenannahme direkt in den Laden gestellt würden, erfährt die Laiin. Vielmehr durchläuft jeder Artikel verschiedene Stationen, bis er schliesslich zum Verkauf angeboten wird. Entsprechend gibt es ganz unterschiedliche Arbeitsplätze im Brocki. Angefangen bei der Warenannahme, wo es um die Kundenbetreuung und ein erstes Triagieren geht, über die Aufbereitung der Artikel, wo handwerkliche Fähigkeiten und Materialkenntnisse gefragt sind, bis hin zum Verkauf, wo die Standardprozesse des klassischen Detailhandels abgebildet werden. In diesem letzten Bereich werden zurzeit sieben Lernende ausgebildet. Für sie wurde für die Zeit des Lockdowns ein spezielles Programm zusammengestellt.
Haushalt, Mode, Elektronik, Möbel
Während der Laden leer ist, wird im Untergeschoss des Brockis gearbeitet. Auf einer Fläche, die noch einmal so gross ist wie die Verkaufsfläche im Erdgeschoss, befindet sich die Aufbereitung. Hierhin bringt der Lift die Gegenstände, die bei der Warenannahme abgegeben werden. Mitarbeitende sortieren und reinigen die Gegenstände und verpacken sie in Kisten, prüfen elektrische Geräte oder frischen Möbel auf. Eingeteilt sind die Mitarbeitenden in vier Teams: Haushalt, Mode, Elektronik und Möbel. In der Aufbereitung werden die Gegenstände auch mit einem Preis versehen, bevor sie mit dem Lift wieder nach oben gebracht und im Laden ausgestellt werden.
Die meisten Artikel, die im Brocki abgegeben werden, gehören laut Bernhard Müller zur Kategorie Haushalt: Küchenutensilien, Geschirr, Papeterieartikel, Spielwaren oder Koffer. Dicht dahinter folgen Modeartikel. Sie werden je nach Saison ausgestellt oder im Untergeschoss in Hunderten von Bananenkisten eingelagert.
Covid verstärkt den Trend
«Das Bewusstsein, dass man Sachen nicht wegwerfen muss, sondern in die Brockis bringen kann, ist gross», sagt Müller. Immer mehr Leute seien von den Brockenstuben begeistert, das zeige sich auch in einem Zuwachs der Kundenzahlen. Covid hat dem Trend einen zusätzlichen Schub verliehen. Dass viele Leute die Zeit zuhause nutzen, um auszumisten, spürte das Brocki vor allem nach dem ersten Lockdown im Mai. Am Tag der Wiedereröffnung brachten dreimal so viele Leute wie üblich Gegenstände vorbei. Das Brocki konnte einen absoluten Kundenrekord und den höchsten je realisierten Tagesumsatz verzeichnen. Danach pendelte sich die Nachfrage ein, das Niveau blieb aber weiterhin hoch, sowohl bei den Warenspenden als auch bei den Besuchenden. Müller ist sehr froh um all die Spenden. So kann der durch den Lockdown entstandene Verlust teilweise kompensiert werden.
Bunt gemischte Kundschaft
Das Publikum des Bärner Brockis sei bunt gemischt, wie seine Auslage, sagt Müller. «Von den Idealisten, die Nachhaltigkeit leben und gebrauchte Gegenstände einem neuen Zweck zuführen wollen, bis hin zu Menschen, die kein Budget für neue Sachen haben.» Diejenigen, die aus ideellen Gründen im Brocki einkaufen, seien mittlerweile jedoch in der Mehrheit. Es sei wirklich erstaunlich, was sie alles weiterverkaufen könnten: «Auch Gegenstände, von denen du denkst, das will jetzt wirklich niemand mehr, haben für irgendjemand einen Wert», so Müller.
Die Kundschaft kommt aber auch, weil das Bärner Brocki bekannt ist als gut organisierter Betrieb mit sozialem Hintergrund, der ein breites Sortiment an sauberer, geprüfter Ware anbietet. Beliebt ist das hauseigene Kaffee mit den selber gebackenen Kuchen, das im Moment erneuert und vergrössert wird. Der Wiedereröffnung schaut Müller gelassen entgegen. Er gehe davon aus, dass die Leute auch während des zweiten Lockdowns ausmisten und die aussortierten Dinge später vorbeibringen würden, sagt er.
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