21.12.2020
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Zürich  | 
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Kündigen heisst jetzt «entmieten»

Um bei Sanierungen und Ersatzneubauten schlechte Presse und Bauverzögerungen zu vermeiden, will die Immobranche neuerdings sozial und mit Empathie kündigen. Gleichzeitig wird daraus ein Geschäft.

Text: Esther Banz

Im September dieses Jahres erhalten die Bewohner*innen in acht Mehrfamilienhäusern an der Allenmoosstrasse in Zürich einen Anruf ihrer Verwaltung Livit. Anita Zaugg erwischen sie an einem warmen Tag in der ersten Monatshälfte. Der ihr unbekannte Bewirtschafter will einen Termin für einen persönlichen Besuch bei ihr abmachen. Die 72-Jährige ist gesundheitlich angeschlagen und möchte wissen, worum es geht. Der Livit- Mitarbeiter verrät es ihr nicht, sie werde dann sehen. Auch Stella Bogoni erhält einen solchen Anruf und wüsste gerne, was die Verwaltung ihr persönlich mitteilen will. «Das wird die Kündigung sein!», schiesst es der seit kurzem pensionierten Kindergärtnerin durch den Kopf. Es sind noch keine fünf Jahre her, da hat Livit ihr bereits die vorherige Wohnung gekündigt, Stella Bogoni lebte damals im Seefeld. Livit benutzt die dortigen Kündigungen heute als Positiv-Beispiel für eine gelungene «Mieterspezialbetreuung»: «Jeder Mieter hat eine passende Wohnung gefunden», steht auf der Webseite. Die einst günstigen Wohnungen kosten jetzt das Dreifache, weiss Stella Bogoni. Sie fand ihre jetzige Wohnung an der Allenmoosstrasse auf eigene Faust. Dass sie auch von Livit verwaltet wird, sei ein Zufall. «Meine Befürchtung, Livit würde mich auch hier wegen einer Sanierung bald wieder rauswerfen, konterten sie mit der Aussage: ‹Es ist nichts in der Pipeline›.» Sie zog also ein. Und ihre Befürchtung wurde bittere Realität.

«Immocare»

Nachdem Stella Bogoni, Anita Zaugg und auch Michael Hitz, der unterhalb von Anita Zaugg wohnt, mit der Verwaltung einen Termin abgemacht haben, fängt das Warten an; die Unruhe, die langen Nächte. Anita Zaugg und Michael Hitz empfangen die Livit-Vertreter am 29. September in Hitz’ Wohnung, mit dabei ist Rechtsberaterin Larissa Steiner vom Mieterinnen- und Mieterverband Zürich. «Der Livit-Vertreter überreichte uns die Kündigungen per 31. März 2022, ganz nüchtern, ohne Emotionen», schildert Zaugg den Vorgang. Sie musste den Erhalt sofort unterzeichnen. Dann erwartete man von ihnen – unmittelbar nachdem ihnen buchstäblich der Boden unter den Füssen weggezogen wurde –, dass sie ein Formular ausfüllen, in dem sie Eckdaten dazu angeben, wie sie fortan wohnen möchten. Anita Zaugg füllt dieses Formular nicht aus, auch Michael Hitz verzichtet. Das hält die Verwaltung nicht davon ab, beiden in den Tagen und Wochen darauf immer wieder SMS und Mails mit Hinweisen zu frei werdenden Wohnungen zu schicken. Die Immobilienbranche nennt das und weitere Massnahmen, damit die Menschen schnell und geräuschlos ausziehen, «Mieterspezialbetreuung» oder auch «Immocare». Und dem ganzen Prozess des Rauswerfens kompletter Hausbewohnerschaften, dem Zerstören ganzer Nachbarschaftsstrukturen, sagt man jetzt «Entmieten».

Zertifizierte Entmieter*innen

Was Anita Zaugg, Michael Hitz und Stella Bogoni nicht wussten: «Entmieten» wird in der Immobilienbranche gerade als grosses Ding gesehen, als eine notwendige Entwicklung, gerade in den Städten. Eine neue Weiterbildung, die der Verband der Immobilienbewirtschafter SVIT anbietet, soll die Bewirtschafter*innen für viele anstehende Kündigungen fit machen. Sie nennen den Lehrgang «ImmoChange». Der Intensivkurs vermittle die «richtigen Prozessabläufe». Denn: «Vorbereitung ist die halbe Miete!», damit es keine schlechte Presse und keine Verzögerungen gibt. Eine Teilnehmerin zeigt sich in einem der Erklärvideos begeistert – vom Kurs und auch von ihrem Job: «Wir durften aktuell gerade ein Mandat übernehmen, wo wir eine Entmietung machen durften.» Die dereinst zertifizierten Entmieter* innen werden auch psychologisch und in Kommunikation geschult, unter anderem von der Firma 3Steps, die für private Immobilien-Besitzer*innen ein Entmietungs-Package entwickelt hat. 3Steps bewirbt das eigene Angebot ebenfalls mit einem Video. In diesem sagt ein Sprecher mit dramatischer, affektierter Stimme, wie «oftmals traumatisierend» Kündigungen seien, und dass «Entmietungsprozesse, wenn unprofessionell, ohne Konzept und Empathie umgesetzt», zur Bildung von Interessengemeinschaften führen würden, «die Widerstand leisten und mithilfe von Mieterorganisationen alle ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsmittel ausschöpfen». Empathie erfahren in diesem Video denn auch insbesondere die Immobilienfirmen: «Die Folgen für Besitzer und Bewirtschafter können gravierend sein und reichen von irreparablen Imageschäden durch negative Medienberichterstattung bis hin zu grossen finanziellen Einbussen aufgrund von Prozesskosten und Bauverzögerungen.» Doch Hilfe naht, verspricht 3Steps: «Unsere psychologisch zertifizierten Fachmitarbeiterinnen schulen ihre Mitarbeitenden im Umgang mit emotionalen Situationen, coachen betroffene Mieter mit modernsten Tools, führen ein unentgeltliches Beratungstelefon und bieten Unterstützung in der Wohnungssuche.» Dies trage entscheidend zur Entschärfung der Situation bei und schaffe «beste Voraussetzungen für ein reibungsloses Entmietungsverfahren.» Das sei für beide Seiten «eine echte Win-win-Situation».

«An die Front gehen»

Mietende wegwischen: Mit einem Video wirbt der SVIT auf der Webseite für seinen neuen Lehrgang «Immochange».
Zoom
Mietende wegwischen: Mit einem Video wirbt der SVIT auf der Webseite für seinen neuen Lehrgang «Immochange».

Das Seminarvideo von SVIT wirkt vordergründig etwas weniger zynisch. Hier kommen verschiedene Referent* innen des Lehrgangs zu Wort. Etwa die Soziologin und Planerin Joelle Zimmerli. Sie sagt im Film: «Wir haben in den letzten Jahren einen Trend zur Siedlungsentwicklung nach innen. Das heisst: Die Städte wachsen vor allem dort, wo das Siedlungsgebiet schon ist. Mit jedem Projekt sind Mietparteien betroffen, die ausziehen und sich eine Wohnung suchen müssen. Das heisst: Die Zahl der Entmietungen wird zunehmen.» Zimmerli bedient mit ihrer Aussage ein Narrativ, das die Immobilienbranche derzeit beherzt verbreitet: Dass die Verdichtung neues Bauen voraussetzt und dass die Neubauten wiederum zwingend den Rauswurf ganzer Nachbarschaften bedingen. Sie wiederholt diese Aussage bei einer telefonischen Anfrage der Schreibenden sinngemäss und erklärt, dass es ihr in der Weiterbildung des SVIT vor allem um den Gesamtkontext gehe: etwa warum es zu Entmietungen komme, warum es diese brauche und welche Bedeutung dieser nicht alltägliche Akt für die Betroffenen habe. Alte Menschen und Wohnen gehört zu den Fachgebieten Zimmerlis, sie forscht und vermittelt auch im Auftrag von Wohnbaugenossenschaften und von Gemeinden. In ihrer Rolle als SVIT-Dozentin blickt sie mit nüchternem Blick auf diese Prozesse, die alte Menschen verdrängen. Im Recherchegespräch – sie wird gleich anschliessend noch einmal anrufen und sagen, sie autorisiere das Gesagte nicht – erklärt sie, man mache bei Entmietungen eine Triage, definiere verschiedene Zielgruppen. Die Bewirtschafter*innen müssen erkennen können, wer von den Mietenden eine spezielle Betreuung und viel Aufmerksamkeit braucht. Menschen darin zu unterstützen, eine neue Wohnung zu finden, braucht Zeit. Und die kostet. Die private Firma 3steps, die die «Mieterspezialbetreuung» hierzulande gewinnbringend für sich entdeckt hat und von «Win-win» spricht, bietet vier Stufenpakete an. Jedes davon enthält als Basis die Vorbereitung und Durchführung der vor Ort ausgesprochenen Kündigung. «An die Front gehen» nennen die einen dieses Vorgehen, auch die Soziologin Joëlle Zimmerli. Genau so werden es die Entmieteten erleben.

Fadenscheinige Argumentation

Menschen, die man aus ihren Wohnungen kündigt, als kriegerische Feinde. Und damit die Bewirtschafter*innen, die man losschickt, als Soldat*innen. Diese sollen aber nicht auf die Idee kommen, ihre unfriedliche Mission zu hinterfragen, deshalb bringt man ihnen bei, dass der ganze Prozess unvermeidbar sei. Bereits in der Ausschreibung wird das klargestellt, etwa jener zu einem Tagesseminar: «Gesetzliche Auflagen für nachhaltiges und energetisches Bauen verhindern oft, in der bestehenden Struktur renovieren zu können. Nur ein Ersatzbau kann die Erfordernisse erfüllen.» Auch an Anita Zaugg, Michael Hitz und Stella Bogoni schrieb die Verwaltung Livit im Auftrag von Swiss Life, es brauche einen Neubau: «Eine Sanierung der bestehenden Wohnungen ist nicht sinnvoll und auch nicht nachhaltig.» Argumentiert wird vor allem ökologisch. Dabei sind die Mehrfamilienhäuser an der Allenmoosstrasse ans Fernwärmenetz angeschlossen, die Mauern dick, die Fenster so alt auch nicht. Aber darum scheint es nicht zu gehen. Swiss Life will grösser bauen, teurer vermieten, eine höhere Rendite erwirtschaften.

Genossenschaften zeigen, dass es geht

Dennoch: Ist etwas dran an der Behauptung, Verdichtung sei nur mittels Neubauten möglich und neu bauen bedinge sogenannte Leerkündigungen? Wie machen es die Wohnbaugenossenschaften (WBG), die selber auch verdichten und neu bauen? Jöelle Zimmerli, selber im Auftrag von WBG tätig, verweist darauf, dass Genossenschaften deshalb nicht kündigen, weil sie gar nicht können. Das stimmt – Genossenschafter*innen kann man nicht so einfach auf die Strasse stellen wie Mieter*innen; aber die Genossenschaften beweisen eben auch seit langem, dass neu bauen tatsächlich sozialverträglich möglich ist. Eine diesbezüglich erfahrene WBG ist die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich (ABZ). Zeitlich und räumlich beschränkbare Sanierungen macht sie in bewohntem Zustand, bei Grossprojekten mit Ersatzneubauten plant sie von langer Hand, etappiert und siedelt die Bewohner*innen gemäss deren Bedürfnissen um, vorübergehend oder definitiv. Ariel Leuenberger, Leiter Kommunikation der ABZ: «Es braucht eine langfristige und gute Planung, viel Koordination und genügend Wohnungen in der Umgebung, die als Ausweichwohnungen infrage kommen.» Ziel sei, «dass diejenigen, die im Quartier verwurzelt sind, auch da bleiben können». Von den gewachsenen sozialen Strukturen profitiert auch das Quartier.

Rendite als Treiberin für Ersatzneubauten

Zurück zur Behauptung von SVIT, um die gesetzlichen Auflagen einhalten zu können, müsse neu gebaut werden. Andreas Wirz, erfahrener Projektentwickler und Vorstandsmitglied des Regionalverbandes Zürich der Wohnbaugenossenschaften Schweiz, sagt dazu: «Umnutzungen und Erneuerungen sind auch mit den aktuellen Energievorschriften möglich.» Und von wegen neu bauen sei grundsätzlich ökologischer: «In der Bausubstanz steckt ganz viel graue Energie, das geht oft vergessen.» Sicherlich könnten hingegen hohe Kosten und strukturelle Eigenschaften gegen eine Sanierung oder Umnutzung sprechen, das müsse im Einzelfall geprüft werden, so Wirz, «aber wie gehandelt wird, hat ja stark mit der Grundmotivation zu tun». Massgebliche Treiber für Ersatzneubauten seien vielfach hoher Anlagedruck und attraktive Renditen, «die Formulierung des SVIT, dass gesetzliche Auflagen Renovationen verhindern, ist tendenziös und einseitig.»
In der Zwischenzeit haben sich an der Allenmoosstrasse Stella Bogoni, Michael Hitz und Anita Zaugg die Werbevideos von SVIT und 3Steps zur Entmietungs- Weiterbildung respektive Entmietungs-Dienstleistung zu Gemüte geführt. Im Wohnzimmer von Anita Zaugg schauen sich die drei anschliessend aus sicherer Corona-Distanz entsetzt schweigend an. Sie finden nur wenige Worte für das, was die Bilder und Worte in ihnen auslösen. «Einfach nur gruuusig», sagt Michael Hitz. Menschenverachtend und zynisch sei das, sind sich alle einig.

500 Franken mehr für die neue Wohnung

Nicola Hilti ist Professorin am Institut für Soziale Arbeit und Räume der Ostschweizer Fachhochschule und Co-Leiterin des Schwerpunkts Wohnen und Nachbarschaften. In einer aktuellen Forschung ist sie mit Kolleginnen der Frage nachgegangen, wie Menschen Wohnungskündigungen erlebt haben. Dabei habe sich gezeigt, dass vor allem die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wurde, von Bedeutung ist. Hilfestellungen bewertet Nicola Hilti zuerst einmal als etwas Gutes. Auf Betroffene könne ein Dienstleistungsangebot wie «Immocare» wohl aber auch zynisch wirken, denn: «Wenn ihnen die Wohnung gekündigt wird, nützt den Menschen auch die ‹Mieterspezialbetreuung› wenig, viele verlieren mit ihrer Wohnung einen wichtigen Teil ihrer Identität und ihres sozialen Gefüges.» Auch Hilti verweist darauf, wie es Genossenschaften machen. Dafür brauche es aber den Willen der Immobilienbesitzer*innen. An der Allenmoosstrasse gibt es noch nicht einmal ein Bauprojekt, gekündigt wurde auf Vorrat. Anita Zaugg, Michael Hitz und Stella Bogoni werden für eine Mieterstreckung kämpfen. Nicht als Einzige. Aber es gibt auch Mieter*innen, die sich auf eines der Angebote von Livit einlassen – selbst wenn das erneut Unsicherheit bedeuten wird. Denn sie wissen nicht, ob das neue Haus nicht das nächste sein wird, das luxussaniert oder abgerissen wird – so wie es Stella Bogoni nun schon mehrmals erlebt hat. Eine ihrer Nachbarinnen (Name der Redaktion bekannt) zieht um. Fünfhundert Franken mehr bezahle sie in der neuen Wohnung, die ihr Livit vermittelt hat. Auf die Frage, wie sie das finanziell machen werde, antwortet sie: «Ich werde vor allem beim Essen verzichten.»