02.07.2020
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M+W  | 
Interview

«Als Mietrechtlerin erachte ich diese Lösung als falsch»

Das Parlament hat in Sachen Geschäftsmieten entschieden. Die Mietrechtsexpertin Sarah Brutschin macht eine Einschätzung.

M+W: Der Shutdown hat viele Geschäftstreibende stark getroffen. Die Einnahmen brachen weg, Löhne und Mieten mussten trotzdem gezahlt werden. Sie sind Mietrechts-Spezialistin – wurden Sie mit Anfragen überhäuft?

Sarah Brutschin: Als Ende März die April-Mieten fällig wurden, nahmen die Anfragen zu. Geschäftsmietende, die nicht zahlen konnten, wollten von mir wissen, was sie tun sollen. Oder sie hatten sich an die Vermietung gewandt, aber keine Reaktion erhalten. Bereits Anfang April erfolgten die ersten Fälle von Kündigungsandrohungen von Vermieterseite. In vielen Fällen herrschte eine Pattsituation: Der Mieter konnte oder wollte nicht bezahlen, die Vermieterin bestand auf der Bezahlung der vollen Miete. Zu einer Kündigung kam es noch in keinem der Fälle. Entweder konnten wir die Situation einfrieren oder die Mietenden beschafften irgendwie Geld, indem sie sich bei der Bank oder bei Privaten verschuldeten.

Gab es auch Mieterlasse?

In den von mir begleiteten Fällen nicht. Entweder gab es eine abschlägige Antwort oder die Gespräche sind noch im Gange.

Sie sind Co-Autorin des ersten Rechtsgutachtens zur Frage, ob die Geschäftsmieten während des Shutdowns geschuldet sind. Ihr Fazit: Sie sind es nicht. Warum nicht?

Meines Erachtens müssen Geschäftsmietende keine Miete zahlen für Objekte, die sie nicht nutzen dürfen. Wer ein Lokal vermietet, vermietet es zum Gebrauch. Aufgrund der Covid-Verordnung des Bundesrats wurde dieser Gebrauch teilweise oder ganz eingeschränkt, weshalb die Vermieterschaft ihren Teil des Mietvertrags nicht mehr einhalten konnte. Das Mietrecht spricht in einem solchen Fall von einem Mangel am Mietobjekt. Die Miete ist deshalb nicht oder nur in reduziertem Umfang geschuldet.

Das Parlament hat in der Juni-Session beschlossen, dass Geschäftstreibende für die Zeit des Shutdowns 40 Prozent der Miete bezahlen müssen. Damit dürften Sie nicht zufrieden sein …

Als Mietrechtlerin erachte ich diese Lösung als falsch. Gleichzeitig ist es ein politischer Kompromiss. Das Gute an der gesetzlichen Lösung ist, dass sie Rechtssicherheit bringt. Die Betroffenen wissen, was gilt, können planen. Und sie müssen nicht prozessieren. Prozesse kosten Geld und Energie und bringen Unsicherheit für beide Vertragsparteien

Der MV hatte sich anfänglich für eine Lösung eingesetzt, bei der die Geschäftstreibenden 30 Prozent der Miete hätten zahlen müssen …

Auch das wäre aus der Perspektive der Mietrechtlerin noch zu viel gewesen. Die Überlegung dahinter war aber, dass manche Geschäftstreibende ihr Lokal teilweise weiter nutzen konnten: für einen Takeaway- oder Onlineverkauf, als Büro oder Lager. Die 30:70-Lösung sollte dieser Tatsache Rechnung tragen – auch wenn sie natürlich nicht in jedem einzelnen Fall den realen Bedingungen entsprochen hätte. Aber das ist bei einem Gesetz sowieso nie möglich.

Der Bundesrat stellte sich bis zum Schluss gegen ein nationales Gesetz. Er argumentierte, er wolle nicht in privatrechtliche Verträge eingreifen.

Ich kann diese Haltung nicht nachvollziehen. Natürlich ist es ein Eingriff in privatrechtliche Verhältnisse, aber der Bundesrat hat während des Shutdowns wiederholt in privatrechtliche Verhältnisse eingegriffen! Vereinbarte Dienstleistungen durften nicht erbracht werden, ich als Anwältin konnte bereits vereinbarte Gerichtsverhandlungen nicht machen, Arbeitnehmende durften nicht mehr an ihren Arbeitsplatz gehen. Wieso sollte ausgerechnet bei den Mieten kein Eingriff gemacht werden? Bundesrat Parmelin und die Vermieterseite wiederholen dieses wenig überzeugende Argument seit Beginn gebetsmühlenartig und prägen damit die öffentliche Wahrnehmung.

Was raten Sie nun Geschäftsmietenden? Sollen sie sich mit dem Teilerlass zufrieden geben oder den juristischen Weg beschreiten?

Sobald das Bundesgesetz in Kraft tritt, sind alle Fälle erledigt, die unter dieses Gesetz fallen. Denn es gilt mutmasslich rückwirkend, ansonsten hätte es keinen Sinn. Bis dahin wird es jedoch noch einige Monate dauern. Es empfiehlt sich deshalb zu versuchen, jetzt mit der Vermieterseite eine Vereinbarung im Sinne des Bundesgesetzes zu treffen. Dort, wo es kantonale Lösungen gibt, wie bei uns in Basel, rate ich ausserdem, diese in Anspruch zu nehmen. Sie sind für alle Parteien besser als die Bundeslösung und wirken ebenfalls rascher. Dabei gilt es zu beachten, dass die Kantone Fristen gesetzt haben, bis wann die Anträge beim Kanton eingereicht werden müssen. Wenn gar keine Einigung gelingt, empfehle ich den juristischen Weg, damit allenfalls auf der Ebene Schlichtungsstelle eine Vereinbarung getroffen werden kann. Das gilt auch für die Fälle, welche nicht unter das Gesetz fallen, weil es entweder um den Zeitraum nach dem Shutdown geht oder weil der Mietzins die Obergrenze von 20 000 Franken übersteigt.

Sie sprechen die kantonalen Lösungen von Basel, Freiburg, Genf, Neuenburg und der Waadt an. Weshalb sind sie besser? Und sind sie nach dem Beschluss des Parlaments überhaupt noch gültig?

Bereits getroffene Vereinbarungen werden nicht vom Bundesgesetz übersteuert. Das gilt nach heutigem Kenntnisstand auch für die kantonalen Lösungen. Besser sind sie, weil der Kanton jeweils einen Teil der Miete zahlt, sofern sich Vermieter- und Mieterseite einigen. So zahlen beide Parteien am Ende weniger als mit der Bundeslösung. Allerdings knüpfen die Kantone ihre Hilfe an weitere Voraussetzungen. Basel etwa zahlt nur, wenn es in der Zeit der Betriebs-schliessung keine Entlassungen gegeben hat. Auch die Aufteilung und die Obergrenzen der betroffenen Mieten sind unterschiedlich. In Neuenburg sind je nach Art des Betriebs nur Mieten bis 3000 respektive 5000 Franken betroffen – da ist eine Vielzahl von Geschäftstreibenden nicht erfasst.

Der Bundesrat wollte den Parlamentsbeschluss nicht per Notverordnung umsetzen, obwohl dies noch bis zum 19. Juni möglich gewesen wäre …

Die Verzögerungstaktik des Bundesrats ist enttäuschend. Das Gesetz soll ja nicht zuletzt verhindern, dass Gewerbetreibende aufgeben, sich verschulden oder sogar Konkurs anmelden müssen. Da spielt der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle. Manche Betriebe werden gar nicht mehr existieren, wenn dieses Gesetz endlich kommt.

Was ist bis dahin mit den Mieten – müssen sie bezahlt werden?

Wer sich mit der Vermieterschaft darüber einigen kann, dass die Miete bis zum Inkrafttreten des Bundesgesetzes respektive bis zur Umsetzung einer kantonalen Lösung oder bis zu einer noch ausstehenden einvernehmlichen Verständigung nicht fällig ist, muss vorerst nicht zahlen. Auch ohne eine solche Vereinbarung ist die Gefahr einer Kündigung aber relativ klein. Denn die Vermieterin hat zurzeit ein technisches Problem, wenn sie ihrem Mieter kündigen will: Sie muss ihm nämlich erst eine Zahlungsaufforderung zustellen, und in dieser muss der genaue Betrag stehen, den sie einfordert. Stimmt dieser nicht, ist die Kündigung ungültig. Fordert die Ver-mieterin also jetzt 100 Prozent der Miete ein und schreibt einen Betrag von 5000 Franken in die Zahlungsaufforderung, so wird dieser Betrag mit Inkrafttreten des beschlossenen Gesetzes rückwirkend falsch und die Kündigung damit ungültig sein. Denn das Gesetz besagt ja, dass nur 40 Prozent der Miete  geschuldet sind, und das wären in diesem Fall 2000 Franken.