Sparpolitik, Missmanagement und Vernachlässigung führten zum katastrophalen Brand im Londoner Grenfell Tower.
28.09.2017
-
M+W  | 
News

Mahnmal London

Eine verfehlte Wohnpolitik ist tödlich. Das zeigt die verheerende Brandkatastrophe in der Finanzmetropole London.

Noch immer ist unklar, wie viele Opfer der fatale Brand vom 14. Juni im Grenfell Tower gekostet hat. Bisher wurden 80 Tote gezählt. Klar sind jedoch die Umstände. Der 24-stöckige Wohnturm mit 129 Wohnungen hatte weder eine automatische Sprinkleranlage noch eine feuerfeste Hülle. Der Brand, ausgelöst von einem defekten Kühlschrank, breitete sich schnell aus. Die brennbare Fassadenverkleidung wirkte noch als Brandbeschleuniger. Das Hochhaus wurde zur Fackel – eine tödliche Falle für die Bewohnerinnen und Bewohner.

Dabei war das Gebäude erst letztes Jahr für 8,7 Mio. Pfund renoviert worden: neue Fenster, neue Aussenhülle. Doch die Behörde drückte die Kosten. Eine nicht brennbare Verkleidung hätte nur rund 300'000 Pfund mehr gekostet. Ein Pappenstiel. Die Nachrüstung der Sprinkler war kein Thema. Sie wäre für nur 138'000 Pfund zu haben gewesen. Hier sind wir bei der wahren Brandursache: der britischen Wohnpolitik. Das Radical Housing Network, ein Verbund von Mieteraktivisten, kritisiert, der Brand sei eine vermeidbare Tragödie gewesen. «Er war das Resultat einer Kombination aus Budgetkürzungen, öffentlichem Missmanagement und reiner Verachtung für die Sozialmieter.» Warum?

Wie konnte sich der Brand so schnell ausbreiten? (Video in englisch)

Der ungenügende Brandschutz war seit Jahren bekannt

Der Grenfell Tower ist eine Sozialbaute aus den 1970er-Jahren. Die Quartierbehörde Kensington Council hat ihn als Wohnraum für Benachteiligte errichtet. Doch der Stadtteil Kensington und Chelsea hat sich radikal gewandelt. Heute wohnen dort Vermögende aus aller Welt. Leute, für die der Besitz einer feudalen Loge im globalen Finanzzentrum ein Muss ist. Der Grenfell Tower mit seinen unterprivilegierten Mietenden wurde immer mehr zu einer Art Fremdkörper. Kritiker werfen der Behörde vor, sie habe sich mehr um die Villen und unterirdischen Swimming Pools der Reichen gekümmert als um die Anliegen der Sozialmieter. Der ungenügende Brandschutz war seit Jahren bekannt. Der Chef des Council ist nach der Katastrophe zurückgetreten. Die Grenfell Action Group, ein Zusammenschluss der Betroffenen, machte schon 2013 bekannt, dass zahlreiche Feuerlöscher nicht funktionierten, weil sie so alt waren. Besonders unter Beschuss geriet die Verwaltung, eine Privatfirma. Die Kensington and Chelsea Tenant Management Organisation (KCTO) sei inkompetent und chaotisch. Es handle sich um eine «Mini-Mafia». KCTO ist Englands grösste private Liegenschaftsverwaltung. Sie betreut im fraglichen Londoner Stadtteil Tausende von Objekten. Fachleute forderten schon seit Jahren, im ganzen Land seien 4000 Wohnbauten nachzurüsten, weil sie unsicher seien. Der zuständige Minister in der britischen Regierung rührte sich aber nicht: Dies sei «nicht dringend» und bringe nur seinen Haushalt durcheinander, antwortete er. Darin widerspiegelt sich die neoliberale Sparpolitik, der die Konservativen, teils aber auch Labour huldigen. Sie geht auf die Ära Thatcher zurück. Aus dieser Zeit stammt die Maxime, der Markt richte alles von selbst. Auch beim Wohnen. Die tödlichen Folgen dieser verfehlten Einstellung zeigen sich jetzt.

Die Immobilienspezialistin und Autorin Anna Minton sieht London auf einem Irrweg. Die City sei heute eine Absteige für Superreiche. In ihrer Studie «Big Capital. Who is London for?» beschreibt sie, wie Investoren und Baulöwen ganze Stadtteile wie Kensington umpflügen und Luxusapartements errichten, um hohe Profite zu erzielen. Willfährige Behörden stehen ihnen zu Diensten, anstatt dass sie die Vorschriften umsetzen. Tatsächlich schreiben die Gesetze bei Neubauten bestimmte Anteile an erschwinglichen Wohnungen vor. Nur werde dies in der Praxis umgangen, so Minton. Als «erschwinglich» gelten plötzlich auch Wohnungen mit astronomischen Mieten – weil andere ja noch viel teurer sind… Kritiker bezeichnen die massenhafte Verdrängung bereits als «soziale Säuberung» und als Verletzung elementarer Menschenrechte. Sie fordern ein verbrieftes «Recht auf Stadt». Autorin Minton hält vor allem Beschränkungen für ausländisches Kapital und einen Neuanfang in der «verrotteten» Stadtplanung mit demokratischer Beteiligung für nötig. Sie schreibt: «London braucht einen Kulturwandel. Die Stadt muss ein Ort sein, wo es sich Leute mit unterschiedlichen Einkommen leisten können, in gemischten Gemeinschaften zu leben.» 

Solche Bussen zahlen Superreiche aus der Portokasse

Zutritt nur für Vermögende: In London wird hauptsächlich für Leute mit grossem Portemonnaie gebaut.
Zoom
Zutritt nur für Vermögende: In London wird hauptsächlich für Leute mit grossem Portemonnaie gebaut.

Die englische Metropole droht seit längerem zu einer riesigen Parkgarage für überschüssiges Kapital von Oligarchen, Superreichen, Finanzspekulanten und Offshore-Gesellschaften zu werden. Das zeigt deutlich eine Analyse von leerstehenden Liegenschaften, die Londons Bürgermeister Sadiq Khan jüngst veranlasste. Opfer des Grenfell-Brands, die immer noch in Notprovisorien leben, hatten sich über Häuser beklagt, die seit Jahren unbewohnt sind. Heraus kam, dass allein im besagten Bezirk Kensington und Chelsea 1652 Objekte leerstehen.

Eine an die Medien durchgesickerte Steuerliste enthüllt prominente Besitzer. Unter ihnen der ex-Bürgermeister von New York und Milliardär Michael Bloomberg, der ukrainische Oligarch Dmytro Firtash oder Scheich al-Maktoum aus Dubai. Diese Leute sind so reich, dass sie auf Mieteinnahmen gut verzichten können. Firtashs Haus, das er für 54 Mio. Pfund kaufte, steht schon seit 2014 leer. Ebenso Bloombergs Sieben-Zimmer-Apartment, das ihn 16 Mio. Pfund kostete. Die minime Strafsteuer von 2100 Pfund im Jahr, die man für an sich unerlaubtes Leerstehen dem Fiskus abliefern muss, zahlen Leute in dieser Preisklasse aus der Portokasse.

Ein verrückter Markt

Wenn der Wohnungsmarkt von Finanzinteressen dominiert wird, wird's fatal. Das zeigt Anna Minton eindrücklich am Beispiel von London: Spekulation, Häuserabriss, horrende Mieten, Verdrängung kleiner Leute, soziale Umschichtung auf Kosten von Normalverdienenden. Die britische Kapitale ist ein Beispiel, wie man es nicht machen darf. Wer es genau wissen will, muss Englisch können. Das Buch ist noch nicht übersetzt: Anna Minton, «Big Capital: Who is London for?», Penguin Taschenbuch, 160 Seiten, CHF 18.90.

BBC-Reportage über den Grossbrand im Grenfell-Tower (englisch)