Albert Kiechler, ein Überlebender der Sanierungswelle
Albert Kiechler ist 97 Jahre alt und und wohnt im Alterszentrum in Basel. Ungewollt, weil er die Kündigung bekam.
Noch gut kann sich Albert Kiechler daran erinnern, wie er 1968 mit seiner Frau in die Dreizimmerwohnung am Claraplatz in Basel einzog: «Sie kostete 650 Franken, was damals kein geringer Preis war.» Doch er arbeitete bei der Grenzwacht, hatte eine gute Stellung und konnte sie sich leisten. 47 Jahre wohnte er dort. Zuletzt zahlte er moderate 870 Franken Miete. Ein paar Jahre lang war er sogar Hauswart. Kleinigkeiten reparierte er jeweils selber. Dank seinem handwerklichen Geschick fiel ihm dies leicht. Als sein Kühlschrank einmal ausfiel, brachte er ihn wieder zum Laufen. Nie musste das Gerät ausgewechselt werden.
Er war aufgewühlt und konnte nicht mehr schlafen
Doch dann wurde Albert Kiechler ausgewechselt. Will heissen: Die Vermieterin, die Madina AG, kündigte im Mai 2014 den ganzen Block leer. Man müsse alles sanieren, niemand könne bleiben, hiess es im Schreiben. «Ich fiel aus allen Wolken, damit hatte ich nicht gerechnet», erzählt Kiechler. Wo sollte er denn in seinem Alter hin? Fürs Altersheim fühlte er sich noch zu jung. Er sorgte für sich selber und benötigte nicht einmal die Spitex. Im Haus hatte er gute Kontakte zur Nachbarin Erika Rigert aufgebaut. Die beiden Senioren schauten zueinander: Sie brachte ihm morgens die Pendlerzeitung «20 Minuten», er ihr dafür abends den «Blick». Und sie vereinbarten ein Klopfzeichen, falls einer einmal Hilfe brauchte: drei Mal gegen die Heizung, das war das Zeichen.
Die Kündigung warf Kiechler völlig aus der Bahn. Er konnte nicht mehr schlafen, musste zur Beruhigung Medikamente schlucken. Suchte sich abzulenken, schaltete den Fernseher ein und dann wieder aus, blätterte in seinen Büchern über den Orient, tigerte in den vier Wänden herum. Alles nützte nichts. Kiechler war innerlich aufgewühlt. 47 Jahre lang hatte er klaglos Miete gezahlt, und nun sollte er innert drei Monaten ausziehen. Einfach so. Mit 96 Jahren. Besonders nervte ihn, dass die Kündigung völlig unpersönlich abgefasst war. «Sehr geehrte Damen und Herren», und nicht «Lieber Herr Kiechler». Als ob er ein Unbekannter wäre. In einem knappen Zehnzeiler wurde ihm bedeutet, seine Heimat zu verlassen. Sein kleines Paradiesli, das ihm ein halbes Jahrhundert lang ans Herz gewachsen war. Mit all den liebgewonnenen Möbeln und Gegenständen, an denen seine Erinnerungen hingen.
Nachbarin nimmt sich das Leben
Kiechler war verzweifelt. Doch er konnte nicht ahnen, dass es jemanden gab, der noch verzweifelter war als er: seine Nachbarin. Plötzlich hörte er nichts mehr von ihr. Die Pendlerzeitung am Morgen fehlte. Er brachte ihr wie gewohnt abends das Boulevardblatt. Als er tags darauf die nächste Ausgabe bringen wollte, sah er die Nummer vom Vortag am Boden vor der Tür liegen. Da wusste er: «Jetzt ist etwas passiert.» Kiechler rief die Polizei, und diese fand Erika Rigert tot in der Wohnung. Neben ihr zwei leere Gläser. Albert Kiechler weiss es zwar nicht mit Bestimmtheit, aber er sagt: «Sie hat sich umgebracht. Die Kündigung hat sie in diese Lage gebracht.» Kurz zuvor, erinnert er sich, habe sie noch nach der Telefonnummer der Auskunft gefragt. Was suchte Frau Rigert? Die Nummer von Exit? Oder Medikamente? Das bleibt im Dunkeln. Kiechler half ihr auch, einen Brief zu schreiben, den sie an die Verwaltung schickte. Er war kurz: «Ich möchte nicht umziehen, ich will in der Wohnung bleiben.»
Der Tod der Nachbarin habe ihm den Rest gegeben, erzählt Kiechler. «Ich war total am Rumpf und dachte nur noch: Nach mir die Sintflut!» Am liebsten hätte er auch seinem Leben ein Ende gesetzt. «Einfach mit dem Kopf durch die Wand», wie er sagt. So weit kam es aber glücklicherweise nicht. Seine Tochter und sein Sohn sorgten dafür, dass der Vater rechtzeitig Hilfe erhielt. Man brachte ihn in die Psychiatrische Klinik, wo er anderthalb Monate blieb, bis es ihm wieder besser ging. Schliesslich fand sich eine Ersatzwohnung. Kiechler konnte im vergangenen Oktober ein Zimmer im nahegelegenen Alterszentrum Lamm beziehen. Hier sitzt er nun und sagt: «Das alles möchte ich kein zweites Mal erleben, es war eine himmeltraurige Zeit.»
«Solche Praktiken sollten nicht erlaubt sein.»
Als Hochbetagter strahlt Kiechler eine fast unglaublich anmutende Vitalität aus. Er ist völlig klar im Kopf und physisch top zwäg. Eben kommt er vom Turnen zurück und deutet einige Übungen an, mit denen schon viel Jüngere als er überfordert wären. Woher kommt diese beneidenswerte Verfassung? «Ich war in meinem Leben stets in Bewegung», erklärt er. Schon früh musste er auf dem elterlichen Bauernhof im Goms anpacken. Im Sommer war er jeweils als Zuhirt auf der Alp, hütete Kühe und produzierte Tonnen von Käse. Dann, es war 1939 und der Krieg brach aus, meldete er sich auf ein Stelleninserat der Grenzwacht. Das war der Beginn seiner Berufskarriere als Grenzwächter. Sie führte ihn schliesslich vom Rheintal nach Basel, wo er viele Jahre im Badischen Bahnhof den Dienst versah.
Kiechler ist ein Rundum-Talent. Nicht nur handwerklich begabt, sondern auch künstlerisch. Alle Bilder in seinem Zimmer hat er selber gemalt. Noch heute greift er zum Pinsel und lässt sich von Vielem inspirieren. Ein Gemälde zeigt ihn selber in Uniform und mit Gewehr im Gelände neben einem Grenzstein. Eine Bleistiftzeichnung seiner Frau offenbart sein kreatives Potenzial, das er sich bis ins hohe Alter bewahrt hat. Dennoch fühlt er sich mehr als ein halbes Jahr nach dem Umzug immer noch fremd am neuen Ort. Er vermisst seine Möbel, manche Erinnerungsstücke, die über Jahrzehnte gewohnte Umgebung. Das Alterszentrum ist für ihn keine neue Heimat geworden. Er ist hier, weil es nicht anders ging. Ein Zwangsversetzter, Herausgerissener. Zwar trifft er am Claraplatz hin und wieder Freunde, mit denen er zusammensitzt und unter denen er immer der Älteste ist. Aber zum Haus am Claragraben, in dem er wohnte und das nur wenige Meter entfernt liegt, ging er nie mehr. Er erträgt den Anblick nicht.
Albert Kiechler ist ein Überlebender der Sanierungswelle. Was ihm geschehen ist, findet er, dürfe nicht passieren. Es sei doch nicht richtig, dass alte Leute einfach so auf die Strasse gestellt werden könnten. Langjährige, betagte Mietende müssten viel besser geschützt sein. «Soll man einfach zuschauen, wie sie durch Kündigungen in Schwierigkeiten geraten? Nein, solche Praktiken sollten nicht erlaubt sein.» Kiechler schüttelt den Kopf, verwirft den Arm. Und sagt: Er wünsche niemandem, das erleben zu müssen, was ihm widerfahren ist.
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