06.06.2014
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M+W

Sozialplanpflicht für Grossvermieter?

Es wird saniert. Überall stehen Mieter auf der Strasse. Die Frage stellt sich: Braucht es bei Massenkündigungen einen Sozialplan?

Nehmen wir zwei aktuelle Beispiele aus der letzten Nummer von M&W. Im solothurnischen Gerlafingen erhielten rund fünfzig Mietende in einer Siedlung die Kündigung auf Ende September. Alle müssen raus, weil saniert wird. Die Besitzerin, eine Zürcher Immobiliengesellschaft, schickte den Betroffenen den blauen Brief kommentarlos ins Haus. Zwar hat ein Teil die Kündigung angefochten. Doch das Problem bleibt: Die meisten Betroffenen sind auf günstigen Wohnraum angewiesen. Den es aber kaum mehr gibt. Die Massenkündigung beschert der Gemeinde ein Sozialproblem. Es ist nämlich absehbar, dass manche auf dem Sozialamt um Unterstützung nachsuchen müssen, weil sie höhere Mieten nicht bezahlen können.

 

Ein anderes Beispiel: In Oerlikon haben über 80 Mietende der Überbauung Züri50 die Kündigung mit der Begründung erhalten, die angeblich schadhaften Gipsdecken müssten saniert werden. Ein Augenschein vor Ort zeigt, dass diese Begründung nicht stichhaltig ist. Offenbar geht es der Vermieterin Credit-Suisse-Pensionskasse um eine Renditesteigerung: Wenn sie nämlich neu vermietet, kann sie höhere Mieten als bei bestehenden Mietverhältnissen verlangen. Werden die blauen Briefe nicht zurückgenommen, droht weiteren 80 Wohnungssuchenden die erbarmungslose Jagd um eine freie Wohnung.

 

Wegen der Vertragsfreiheit hat ein Vermieter freie Hand, wenn er sanieren will. Er muss nur wenige Vorschriften einhalten, etwa die Sanierung «rechtzeitig» ankündigen und im «zumutbaren Rahmen» sanieren. Das sind Gummibegriffe, die in der rauen Realität des Mietmarkts wenig bedeuten, wenn sie überhaupt eingehalten werden. Nichts schützt Mietende vor einem kollektiven Rausschmiss: Weder sind Leerkündigungen ganzer Siedlungen verboten noch ist bei Sanierungen eine sozialverträgliche Vorgehensweise Pflicht.

 

Ein Vergleich mit dem Arbeitsrecht zeigt: Dort gilt zwar ebenfalls die Kündigungsfreiheit des Arbeitgebers. Doch sie hat Grenzen, wenn eine grössere Anzahl von Menschen betroffen ist. Grossunternehmen haben die Pflicht, bei Massenkündigungen ein Mitwirkungsverfahren einzuhalten. Die Beschäftigten bzw. ihre Gewerkschaften können Alternativvorschläge zur Vermeidung des Jobabbaus vorlegen. In der Realität resultiert dann meist ein Sozialplan, der die Nachteile der Kündigungen abfedert. Für Grossunternehmen mit 250 und mehr Angestellten besteht bei Kündigungen von 30 und mehr Leuten ab dem 1. Januar 2014 eine Sozialplanpflicht (Art. 335 OR).

 

Solche Sozialpläne enthalten Leistungen zur Milderung der Nachteile, zum Beispiel Umschulungen, Weiterbildungen, Hilfen bei der Stellensuche, Umzugshilfen, Abgangsentschädigungen oder frühzeitige Pensionierungen. Wird dieses Beispiel auf das Mietrecht angewendet, so liegt die Idee einer Sozialplanpflicht bei Massenkündigungen auf der Hand. Menschen, die wegen Sanierung, Abbruch oder Umnutzung einer Wohnliegenschaft auf die Strasse gestellt werden, sollen besser geschützt werden. Dies lässt sich mit dem gleichen Recht wie im Arbeitsrecht begründen. Sowohl beim Job als auch beim Dach über dem Kopf handelt es sich um schützenswerte existenzielle Grundbedürfnisse. Diese dürfen der Willkür des Marktes überantwortet werden.

 

Wie wäre es, wenn Grossvermieter im Falle von Massenkündigungen eine Sozialplanpflicht hätten? Sie müssten dann den Betroffenen Leistungen bieten. Denkbar wären Wohnungsvermittlungen, Umzugshilfen, Zügelbeiträge, Rückkehrgarantien in die sanierte Wohnung, vorübergehende Unterkünfte bis zum Abschluss des Umbaus oder Garantien gegen überrissene Mietzinsaufschläge nach Abschluss des Umbaus.

 

Diese Idee scheint logisch, vernünftig und auch sozial angebracht. Sie hätte zur Folge, dass Grossvermieter Sanierungsvorhaben besser planen würden, wenn sie mit zusätzlichen Sozialkosten rechnen müssten. Die Sozialplanpflicht würde somit sozialverträgliche Sanierungen fördern. Die Kosten für Grossvermieter wären tragbar, denn es würden Mieterstreckungsverfahren entfallen. Die Sozialkassen der Gemeinden würden weniger durch Mieter beansprucht, die aus günstigen Wohnungen geworfen werden. Mit anderen Worten: Alle Seiten würden profitieren.

BRD: Sozialpläne bei Stadterneuerung möglich

Ein Blick nach Deutschland zeigt: Sozialpläne bei Sanierungen sind nichts Abwegiges. In Deutschland gilt ein sozialeres Mietrecht als in der Schweiz. Zwar zählt auch dort die Vertragsfreiheit: Kein Vermieter ist verpflichtet, bei Kündigungen seine Mieter zu entschädigen. Doch der Vermieter muss die Modernisierung drei Monate im Voraus ankündigen. Auch kann der Mieter einen Härteeinwand machen, wenn die Sanierung zu einer unzumutbaren sozialen Härte führen würde. Ausserdem können die Mieter gegen eine willkürliche Leerkündigung klagen. Die Städte können bei Quartiersanierungen Sozialpläne für Erneuerungsgebiete erlassen. Das sind Kompromisswerke, die verhindern sollen, dass sowohl Mieter wie Grundeigentümer durch den grossflächigen Umbau allzu grosse Nachteile erleiden. Solche baugesetzlich möglichen Sozialpläne wurden bereits in Hamburg oder Berlin erlassen.