So geht's auch: Wie ein Testament eine Liegenschaft im Seefeld vor der Spekulation schützt
Die Liegenschaft an der Seefeldstrasse 55/ Eisengasse 2 im Zürcher Seefeld mit direktem Blick auf die Badi Utoquai hat dieses Jahr die Eigentümerin gewechselt. Für die Mieter*innen ändert sich jedoch nichts. Denn die Vorbesitzerin hatte in ihrem Testament festgehalten, dass das Haus von der Stiftung PWG zu einem reduziertem Kaufpreis erworben werden kann.
Text: Ines Rütten
«Unser Haus ist eine absolute Ausnahme hier im Seefeld», sagt Sandro Ferrari. Der 47-Jährige hat seit dem Auszug aus dem Elternhaus im Jahr 2002 nie woanders gewohnt als im gelben Haus mit der doppelten Adresse Seefeldstrasse 55/ Eisengasse 2. Die 3-Zimmer-Wohnung im 4. Stock hat Ferraris Leben seither mitgelebt: Wohngemeinschaft, alleinstehend, wohnen mit Freundin, wieder allein und seit fünf Jahren mit seiner Partnerin Stella de Malo.
Und auch weiterhin wird er sein Leben in der Wohnung im Seefeld geniessen können – obwohl das Haus mit den 16 Wohnungen und 5 Gewerberäumen seit Kurzem eine neue Eigentümerin hat. Keine Selbstverständlichkeit im beliebten Zürcher Quartier. Denn in den letzten zwei Jahrzehnten wurden Liegenschaften hier vor allem abgerissen, ausgehöhlt, neu gebaut, saniert und für viel Geld neu vermietet oder in teures Stockwerkeigentum umgewandelt. Menschen, die sich die hohen Mieten nicht leisten können, wurden verdrängt. Die Wortschöpfung «Seefeldisierung» steht heute für die Gentrifizierung der Zürcher Quartiere und den damit einhergehenden Veränderungen.
«Hätten wohl das gleiche Schicksal erlitten»
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Das Wohnhaus von Sandro Ferrari entgeht diesem Schicksal. Denn die ehemalige Besitzerin Brigitte Koller hatte in ihrem Testament festgehalten, dass das Haus an die Stiftung PWG übergehen soll. Die 1990 gegründete öffentlich rechtliche Stiftung der Stadt Zürich hat den Zweck, preisgünstige Wohn- und Gewerberäume in der Stadt zu erhalten und zu schaffen. Beim Kauf einer Liegenschaft sichert die Stiftung PWG zu, dass Mieterinnen und Mieter zu den bisherigen Konditionen bleiben und das Haus für immer dem gemeinnützigen Zweck gewidmet ist.
«Um unser Haus herum wurde in den letzten Jahren viel gebaut», sagt Ferrari. Er habe sich oft gefragt, wie lange er zu dem tiefen Mietzins bleiben könne. Jetzt ist er erleichtert: «Wir hätten wohl das gleiche Schicksal wie viele in unserer Nachbarschaft erlitten, wenn die Besitzerin nicht auf uns aufgepasste hätte», sagt er.
«Seefeld ist meine Heimat»
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Dass die Stiftung PWG die Liegenschaft nun besitzt, ist für Mieterin Yolanda Gähwiler eine grosse Erleichterung. Sie wurde im Laufe ihres Lebens mehrfach Zeugin der «Seefeldisierung» und musste sie schmerzhaft miterleben. Gähwiler ist ein Seefelder Urgestein. Ihr ganzes Leben verbrachte die ehemalige Sängerin und Schauspielerin in diesem Quartier. Ihre Eltern führten einst ein Quartierrestaurant und als Kind wohnte Gähwiler schon an der Eisengasse 2. Die Familie brauchte jedoch eine grössere Wohnung und zog an die Dufourstrasse.
Dort verbrachte Gähwiler über 50 Jahre ihres Lebens. Wenn sie nicht auf Tournee war, lebte sie bei den Eltern und behielt die Wohnung auch nach deren Tod. Vor etwa acht Jahren bekam sie ein Schreiben, dass das Haus verkauft wurde. Der bekannter Immobilienentwickler Urs Ledermann war nun der Besitzer der Liegenschaft. «Erst hiess es: ‚Keine Angst, alles bleibt, wie es ist‘ und ein halbes Jahr später kam die Kündigung», sagt Gähwiler. «Das war eine Katastrophe für mich.» Sie versuchte noch, sich zu wehren – ohne Erfolg. Auch eine neue Wohnung konnte sie nicht finden. «3000 oder 4000 Franken pro Monat konnte ich mir einfach nicht leisten.»
Fünf Jahre auf Wohnungssuche
Schliesslich lagerte sie ihre Möbel ein und zog in ein möbliertes 1-Zimmer-Studio. Fünf Jahre blieb dieses ihr Zuhause. «Es war schrecklich», sagt Gähwiler. Aus dem Seefeld wegzuziehen, kam für die 77-Jährige jedoch nicht in Frage. «Ich will in kein anderes Quartier, wo ich niemanden kenne. Das Seefeld ist einfach meine Heimat.» Doch die meisten Wohnungen waren für die Seniorin zu teuer.
Dann erhielt sie einen Anruf von der Verwaltung der Liegenschaft Seefeldstrasse 55/ Eisengasse 2. Sie könne eine 3-Zimmer-Wohnung haben. Eine Freundin von Gähwiler hatte in der Wohnung gewohnt und war verstorben. Sie hatte bei der Verwaltung jedoch gemeldet, dass Gähwiler eine Wohnung sucht. «Erst hatte ich Hemmungen, in die Wohnung der verstorbenen Freundin zu ziehen aber am Ende sagte ich zu.» Die Freundin hätte sich sicher gefreut, dass sie endlich wieder eine Wohnung habe, sagt Gähwiler. Vor drei Jahren holte sie ihre eingelagerten Möbel aus dem Depot und zog um. «Ich lebe gerne hier und hoffe, dass sich nichts ändert.»
«Typisch Frau Koller»
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Im ersten Stock des Hauses befinden sich mehrere Arztpraxen und im Erdgeschoss Geschäfte, deren Schaufenster auf die Seefeldstrasse ausgerichtet sind. Eines davon gehört dem Laden Fanafillah, in dem das schweizerisch-türkische Ehepaar Christina Ochsner Çanak und Necati Çanak seit 1992 türkisches und orientalisches Kunsthandwerk verkaufen. Dutzende Lampen hängen von der Decke, Tücher und Schals in allen Farben glitzern, silberne Gefässe glänzen und buntes Geschirr steht gestapelt in den Regalen. Zwei Mal pro Jahr geht das Ehepaar auf Einkaufsreise, um Kontakte zu den Produzent*innen zu pflegen und besonders schöne Stücke auszuwählen. Mittlerweile haben sie Expertenstatus, wenn es um orientalisches Handwerk geht. Ihr Laden im Seefeld ist aber auch Treffpunkt für Freunde des Orients oder Heimwehtürk*innen.
Dass die Besitzerin Brigitte Koller für ihre Mieter*innen schaut, darauf vertraute Christina Ochsner Çanak immer. «Sie war einfach ein feiner Mensch und hat sich dafür interessiert, wie es uns geht.» Im Jahr 1992 hat das schweizerisch-türkische Ehepaar ihr Geschäft in dem Lokal an der Seefeldstrasse 55 eröffnet. Necati Çanak war für seine Frau in die Schweiz gekommen unter der Bedingung, dass er – wie in seiner Heimat – ein eigenes Geschäft betreiben kann. Ein Jahr lang suchte das Paar nach einem geeigneten Ladenlokal. Das Seefeld kannte Ochsner Çanak aus ihrer Kindheit, denn ihre Grossmutter wohnte ein paar Häuser von ihrem heutigen Laden entfernt. «Das Seefeld schien uns ein gutes Quartier für unsere Pläne, weshalb wir uns ganz naiv auf eine kleine Zeitungsannonce meldeten.» Sie erhielten die Zusage und richteten mit einfachen Regalen aus dem Brockenhaus und von Ikea ihren Laden ein. Unterstützt wurden sie dabei noch vom damaligen Hausverwalter, der sie in ihrem Auto umherfuhr, um Einkäufe zu erledigen oder Material zu transportieren. Christina Ochsner Çanak arbeitete daneben noch Teilzeit als Redaktorin beim Amt für Jugend- und Berufsberatung, ihr Mann schmiss den Laden. Heute sind beide im Pensionsalter. «Aber wir machen weiter, der Laden und unsere Kundschaft liegen uns am Herzen», sagt Christina Ochsner Çanak.
Ein teurer Ruf
Mit der nun verstorbenen Vermieterin Brigitte Koller, die in einem speziellen Wohnheim für Blinde in Thun lebte, entwickelte das Ehepaar über die Jahre einen guten Kontakt. Mehrmals jährlich telefonierten sie und manchmal besuchte Koller den Laden zusammen mit einer Freundin. Während der Corona-Pandemie bot sie für die Wochen der Lockdowns von sich aus eine Mietreduktion an und seit 1992 ist die Miete für das Ladenlokal nie gestiegen. «Wir hatten damit immer eine verlässliche Situation», sagt Christina Ochsner Çanak.
Dadurch gelang es dem Ehepaar – anders als vielen anderen Ladenbesitzern – das Geschäft über all die Jahre zu erhalten. Rundherum zogen Gewerbetreibende weg, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten konnten. Das Nachbarschaftsgefühl habe sich damit auch verändert, sagt Ochsner Çanak. Früher hätten sie zu den anderen Ladenbesitzern gute Beziehungen gepflegt, man kannte und unterstützte sich, wenn es nötig war. Heute würden viele den Kontakt gar nicht mehr suchen oder sie blieben nicht so lange, dass sich eine Beziehung ergebe. Den Begriff «Seefeldisierung» hört Ochsner Çanak nicht gerne: «Er gibt unserem Quartier den Ruf, dass es hier eh nur teuer und elitär ist.» Viele würden das Seefeld dann gar nicht für einen Einkaufsbummel in Betracht ziehen, obwohl es nach wie vor nette kleine Geschäfte gebe mit attraktivem Angebot für jedes Portemonnaie.
Angst vor dem Rauswurf hatte das Ehepaar nicht, als es vom Tod der Hausbesitzerin hörte: «Ich war mir irgendwie sicher, dass Frau Koller eine gute Lösung für ihre Mieter*innen sucht», sagt Christina Ochsner Çanak. Als sie von der PWG als neue Besitzerin hörte, habe sie sofort gedacht: «Typisch Frau Koller. Wir sind ihr sehr dankbar. Nicht zuletzt wegen ihren fairen Mietbedingungen konnten wir das werden, was wir heute sind.»
Text: Ines Rütten
Bilder: Reto Schlatter
Die Stiftung PWG
Die Stiftung PWG zur Erhaltung von preisgünstigen Wohn- und Gewerberäumen der Stadt Zürich wurde 1990 auf Grundlage einer Volksinitiative gegründet. Sie ist eine gemeinnützige, öffentlich-rechtliche Stiftung mit eigener Rechtspersönlichkeit.
2 x JA für mehr bezahlbare Wohnungen in der Stadt Zürich
Am 24. November 2024 stimmen die Stadtzürcher Stimmberechtigten über die vom Stadtrat beantragten Gegenvorschläge zur SP-Volksinitiative «Bezahlbare Wohnungen für Zürich» ab. Die Gegenvorschläge bringen 300 Millionen Franken zusätzliches Eigenkapital unter anderem für die Stiftung PWG, die Stiftung für Alterswohnungen und die Stiftung für Familienwohnungen. Der Stadtrat wird ausserdem ermächtigt, Darlehen und Bürgschaften an gemeinnützige Wohnbauträgerinnen zu vergeben. Dadurch können mehr bezahlbare Wohnungen in der Stadt Zürich geschaffen werden. Mit einer Ergänzung der Gemeindeordnung wird der Stadtrat zudem aufgefordert, noch offensiver Immobilien und Grundstücke zu kaufen.
Der MV Zürich empfiehlt: Stimmen Sie 2 x JA!
Übrigens: Wie Sie erkennen könnne, ziert das Haus an der Seefeldstrasse 55 / Eisengasse 2 die Plakate des Ja-Komitees.
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