07.04.2017
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Gier wird legitim

Sie kennt alle Tricks und Schliche der Vermieter. Felicitas Huggenberger gibt im M+W-Interview Einblicke in die Miethölle Zürich.

«Es steckt einfach zu viel Geld im Wohnungsmarkt.»

M+W: Wer in Zürich auf dem freien Markt eine Wohnung suchen muss, braucht starke Nerven. Nur Genf toppt die Limmatstadt in Sachen Wohnungsmisere. Was geht im Millionenzürich derzeit ab?
Felicitas Huggenberger: Sehr stark beschäftigen uns Leerkündigungen, bei denen allen Mietenden wegen einer Sanierung gekündigt werden. Oft ist aber fraglich, ob nach der Ankündigung auch wirklich eine Renovation folgt. Das Ziel ist stets, die Mietenden schnell weg zu haben. Nicht selten wird gegen den Willen der Betroffenen saniert. Diese wollen gar keinen übertriebenen Komfort, sondern viel lieber in der angestammten Wohnung bleiben.

Weshalb diese Rausschmisse am Laufmeter?
Wir haben das Gefühl, dass einfach zu viel Geld im Wohnungsmarkt steckt. Geld, das eine Anlage sucht und dann in Sanierungsprojekte investiert wird, auch wenn diese gar nicht nötig sind. Wohn- und Geschäftsliegenschaften sind noch nicht amortisiert, und schon wird wieder erneuert. Oft dürfte es sich um «parkiertes» Kapital handeln. Auch spielen Steueroptimierung und andere Finanzaspekte eine Rolle. Gerade Grossunternehmen verfügen über Kapital, dem andere Anlagemöglichkeiten fehlen. Dann wird halt wieder eine Runde saniert. Und gleichzeitig wird natürlich der Mietzins «optimiert». Sprich: kräftig erhöht.

«Die Hemmschwelle für Leerkündigungen ist gesunken.»

Und diese Strategie drückt das allgemeine Mietzinsniveau nach oben.
Natürlich. Die Hemmschwelle für Leerkündigungen ist stark gesunken. Entscheidend ist dabei die Lage einer Immobilie. Denn ein Eigentümer fährt zum Beispiel im Tösstal oder im Zürcher Unterland besser, wenn er im bewohnten Zustand saniert, als wenn er allen Partien kündigt und Mietzinsausfälle tragen muss, weil er die Wohnungen weniger gut vermieten kann als in der Stadt Zürich. Die Immobilienfirmen rechnen heute aus, was besser für sie ist. Sie denken: Wenn wir alle Bewohner auf die Strasse setzen, haben wir keine schimpfenden Personen während der Umbauten und freie Bahn für den Umbau. Am Schluss holen wir die Metzinsausfälle durch starke Mietaufschläge sowieso wieder herein. 

«Die Erben wollen heute auch kassieren.»

Wohnungssuchende müssen sich für eine bezahlbare Bleibe auf Zürichs hartem Pflaster einiges einfallen lassen.
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Wohnungssuchende müssen sich für eine bezahlbare Bleibe auf Zürichs hartem Pflaster einiges einfallen lassen.

Ist es wirklich so, dass Leerstände heute keinen Investor mehr abschrecken?
Kürzlich sprach ich mit einem Immobilienvertreter, der sich noch vor Leerständen fürchtete. Solche Überlegungen machen aber sicherlich nur noch kleine Immobilienfirmen. Die meisten rechnen heute knallhart. Bei Privatbesitzern spielt es eine Rolle, wenn die Erben zum Zug kommen. Die alten Eigentümer hatten noch eine Beziehung zum Haus und kannten die Mieter persönlich. Nicht so die Erben. Die schauen bei Homegate auf die Preise und denken sich: Ich bin ja nicht blöd und mache noch Geschenke, während sich andere eine goldene Nase verdienen. Sie wollen auch kassieren, obwohl sie kein eigenes Geld in die Liegenschaft gesteckt haben. Diese fällt ihnen ja in den Schoss.  

Das heisst, die Grossen stecken mit ihrer Rendite-Gier den ganzen Markt an und verleiten nun auch die Kleinen dazu, aus den Mietertaschen das Maximum herauszuholen?
Es gibt zunehmend eine Art Konsens in Zürich, dass es absolut legitim ist, ein Maximum aus einer Liegenschaft zu ziehen. Jeder denkt inzwischen: Ich bin ja wahnsinnig nett, wenn ich nicht auch ans Limit gehe. Allerdings habe ich auch schon Briefe von Vermietern erhalten, die mir sagten, sie würden niemals Mietende einfach so auf die Strasse setzen. Solche Hausbesitzer gibt es noch. Doch langsam setzt sich ein neuer Standard durch, der dann zur Normalität wird. Und niemand hinterfragt diese Entwicklung. 

Selbst ältere und sogar betagte Mietende sind nicht mehr vor solchen Praktiken gefeit. 
Tatsächlich sind ältere Mietende kein Hindernis mehr. In solchen Fällen wird einfach eine längere Kündigungsfrist angesetzt. Das ist aber nicht viel besser, weil die Kündigung nur aufgeschoben ist. Damit wollen Vermieter eine potenzielle Mieterstreckung der Schlichtungsstelle vorwegnehmen. Die Erstreckung wird so umgangen, und das ermöglicht dann eine optimierte Rechnung. Wenn älteren Personen zum Beispiel auf zwei Jahre hinaus gekündigt wird, vertrauen die Immobilienfirmen bei der Schlichtungsstelle darauf, dass diese die Kündigung ohne weiteren Aufschub akzeptiert. Die Betroffenen hätten ja angeblich genug Zeit gehabt, um sich eine neue Bleibe zu suchen. Diese Methode beobachten wir vor allem bei Mehrfamilienhäusern mit vielen Seniorinnen und Betagten.

Geht diese Rechnung auf?
Sie geht auf, wenn sich die Mietenden nicht vom MV vertreten lassen. Wenn sie das aber tun, verweisen unsere Rechtsberater auf neuere Bundesgerichtsurteile. Diese erklären Kündigungen als missbräuchlich, wenn kein detailliertes und konkretes Sanierungsprojekt vorhanden ist. Je länger ein Vermieter auf eine bestimmte Frist hinaus kündigt, desto grösser sind die Chancen, dass er kein genügend ausgereiftes Projekt vorlegen kann.   

Respektieren die Zürcher Behörden und Gerichte diese Vorgaben des Bundesgerichts?
Wenn die Mieter nicht vertreten sind, dann wird oft aus dem Bauch heraus entschieden. Man gewährt dann noch einen vorzeitigen Auszug, und der Fall ist erledigt.

Schon seit Jahren kritisiert der MV, dass die Schlichtungsbehörden den gesetzlichen Rahmen bei Erstreckungen gar nicht ausschöpfen. Vom Gesetz her wären Aufschübe bis zu vier Jahren möglich.
An dieser Kritik halten wir fest. Auch wenn wir in Einzelfällen von längeren Erstreckungen hören, kennen wir viele Fälle, bei denen die Schlichtungsbehörden nur extrem kurze Erstreckungen anbieten, einem Geschäftsmieter beispielsweise drei Monate. Das ist lächerlich! Das Mietgericht hat solche Pseudo-Vergleiche deutlich kritisiert: Es gehe nicht an, derart kurze Erstreckungen anzubieten. Generell bleiben die gewährten Aufschübe immer noch weit unter den Möglichkeiten, die das Obligationenrecht vorsieht.

Immobilienfirmen müssen doch bei der Leerkündigung wissen, wie die Erstreckungen aussehen. Je nach dem haut es ihnen die Rechnung durcheinander.
Ja, es ist logisch, dass es aus Sicht der Immobilienfirmen weniger planbar erscheint. Und trotzdem bin ich klar der Ansicht, dass die Firmen mit langen Erstreckungen rechnen müssen. Wenn sie diese Unplanbarkeit umgehen wollen, dann sollen sie im bewohnten Zustand sanieren. Wichtig ist deshalb die Praxis der Schlichtungsbehörden. Diese hat Signalwirkung. Wenn die Immobilienfirmen mit langen Erstreckungen rechnen, dann sind sie im Einzelfall zu kreativen Lösungen bereit. Es gibt da viele Möglichkeiten, wie die etappenweise Sanierung, Wohnungstausch, Rückkehrrecht etc...

Sie haben die Mietenden in Zürich dazu aufgerufen, die Anfangsmiete anzufechten. Sie sollen überhöhte Aufschläge bei Mieterwechseln bekämpfen. Hat der Aufruf Erfolg?
Er war erfolgreich. Wir konnten die Anfangsmietzinsanfechtungen im Kanton Zürich massiv erhöhen. Trotzdem sind dies natürlich gemessen an allen Mieterwechseln immer noch sehr wenige. Die Anfangsmieten beschäftigen uns weiterhin stark. Nach wie vor gehört es zur Tagesordnung, dass Immobilienfirmen bei Mieterwechseln die Mieten erheblich erhöhen, dies trotz historisch tiefem Zinsniveau. Sie schlagen locker 30 bis 40 Prozent auf. Das ist in aller Regel illegal, weil solche Vermieter eine übersetzte Rendite einstreichen. Die erhöhte Quote bei den Anfechtungen hat aber dazu geführt, dass Vermieter sich vermehrt spezialisierten Anwaltsbüros beraten lassen. Und dann schlagen sie genau 10 Prozent auf. Dies ist eine mietrechtliche «Grenze», die bestimmt, wer den missbräuchlichen Mietzins glaubhaft machen muss.

Und die negative Seite?
Die Hürde für Mietende, kurz nach Einzug den Anfangsmietzins überprüfen zu lassen, ist hoch. Wer will gleich nach dem Einzug mit dem Vermieter einen Streit beginnen? Zudem hat sich die 10-Prozent-Grenze als eine Art Standard etabliert. Selbst Mietende meinen, der Vermieter dürfe immer so viel aufschlagen. Kürzlich las ich auf dem im Kanton Zürich vorgeschriebenen Formular eines Vermieters: Er setzte die Miete «um die zulässigen 10 Prozent» herauf. Das ist natürlich Humbug, aber trotzdem schwierig für den Mieter, da er in diesem Fall beweisen muss, dass die Miete nicht orts- und quartierüblich ist.

Die Vermieter empfinden die Anfechtung einer übersetzten Anfangsmiete als einen groben Verstoss gegen Treu und Glauben. Und sie stellen einen Mieter, der das macht, als unmoralischen Kerl hin.
Es ist tatsächlich auffällig, wie emotional gewisse Vermieter reagieren. Sie sind verärgert und versuchen mit allen möglichen Mitteln, den Anfechtern das Leben schwer zu machen. Dabei nehmen diese nichts anderes als ihr gesetzliches Recht wahr. Ich finde es eher unmoralisch und einen groben Verstoss, wenn ein Vermieter grundlos die Miete erhöht, nur um eine höhere Rendite einzustreichen. Hier muss man die Charakterfrage stellen, nicht beim Mieter.

Felicitas Huggenberger

Felicitas Huggenberger (46) ist Geschäftsleiterin des MV Zürich, des mit rund 50'000 Mitgliedern grössten Mieterverbands der Schweiz. Sie trat den Job vor acht Jahren als Nachfolgerin von Niklaus Scherr an. Zuvor war die Juristin Leiterin des Rechtsdienstes des MVZ. Sie lebt mit ihrer Familie in Pfäffikon.