11.06.2016
-
M+W  | 
News

«Die Wohngenossenschaften sind im Aufbruch.»

M&W sprach mit dem Zürcher Architekten, Berater und Wohnpionier Andreas Hofer über neue Wohnmodelle und die Herausforderungen, die sich den Gemeinnützigen heute stellen.

M&W: Herr Hofer, Sie sagten kürzlich an einer Tagung in Bern, dass wir uns in einem «epochalen Umbruch» befinden. Was meinen Sie damit?
Andreas Hofer: Wir leben in einer Art Übergangszeit. Unser Bild des Wohnens stammt aus dem frühen 20. Jahrhundert. Es entstand als Antwort auf die Industrialisierung und die Massenproduktion. Auch im Wohnbereich war der Funktionalismus massgebend. Man trennte die Bereiche Arbeit, Freizeit, Wohnen etc. auf und wollte für diese einzelnen Bereiche gute Lösungen finden. So entstand der rationale Städtebau, so entstanden unsere Wohnsiedlungen. Millionenfach wurden ähnliche Wohnungen in Quartieren wie Schwamendingen gebaut. Jede Familie sollte Anspruch auf eine gesunde Wohnung haben. Heute hat sich diese Situation verändert.

«Die Kleinfamilie hat ihren Status eingebüsst.»

Andreas Hofer, Zürcher Wohnpionier.
Zoom
Andreas Hofer, Zürcher Wohnpionier.

Was ist denn anders geworden?
Nehmen wir die Kleinfamilie. Auf diese soziale Form richtete sich der Wohnungsbau jahrzehntelang aus. Heute gibt es aber immer mehr Singles und kollektive Formen des Zusammenlebens. Die Kleinfamilie hat ihren Status als Massstab eingebüsst. Gleichzeitig erleben wir einen Umbruch in der Produktion, den Prozess der Deindustrialisierung, den Wandel zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft sowie die Digitalisierung. Dies stellt grundsätzliche Fragen über die Arbeit und ihren Wert. Der Kapitalismus transformiert sich in einen Postkapitalismus, von dem wir noch nicht genau wissen, wie er aussieht. Zusammen mit den Herausforderungen des Klimawandels und der Energiewende wird dies unseren Alltag weit über die Wohnfragen hinaus verändern.

Gab es nicht schon immer alternative Lebens- und Wohnformen?
Doch, denken wir nur an die gemeinschaftlichen Wohnformen, die die Frühsozialisten im 19. Jahrhundert proklamierten. Oder ans Amerikanerhaus an der Idastrasse in Zürich. Dieses Haus aus den 1910er-Jahren hatte ursprünglich nur Kleinwohnungen und eine einzige Grossküche mit Speisesaal für sämtliche Bewohner. Heute läuft wieder eine intensive Debatte über kollektive Wohnformen. In unseren «Kraftwerk»-Projekten haben wir versucht, diese umzusetzen. 

Sie zählen zu den Gründern der Genossenschaft Kraftwerk1, die als Schrittmacherin gilt und Prinzipien wie Gemeinschaft, Autonomie, Durchmischung und Ökologie hoch hält.  
Unser erstes Projekt an der Hardturmstrasse war ein Ausdruck der 1990er-Jahre. Der wichtigste Schritt war wohl die Anerkennung der gesellschaftlichen Vielfalt. Wir wollten keine einheitlichen Wohnlösungen mehr verordnen wie in der klassischen Moderne. Diese zwang ja den Menschen auf der Suche nach dem «richtigen» Wohnen einen Lebensstil auf. Wir wollten diese strukturelle Macht der Architekten aufbrechen und suchten Offenheit, Komplexität, Diversität. 

«Die Ideen der Pioniere haben die Nische verlassen.»

War das nicht auch eine Rebellion gegen die herrschende Gesellschaft und das normierte Wohnen?
Die 68er- und auch die 80er-Bewegung nahmen eine Oppositionsrolle ein. Sie kritisierten das Profitsystem und sagten, man müsse es anders machen. Es wurden Gegenwelten postuliert, die so und so aussehen müssten. Diese Haltung ist etwas ignorant gegenüber der Wirklichkeit, die komplex und vielfältig ist. Meine persönliche Erkenntnis ist, dass wir nicht Systeme gegeneinander stellen und beliebig zwischen ihnen wählen können. Es treffen ganz verschiedene Wertemuster, unterschiedliche Kulturen und Lebensphasen aufeinander. Wir strebten im «Kraftwerk1» nicht ein Einheitsmodell an, sondern die Anerkennung der Vielfalt als tragfähige Grundlage des Zusammenlebens.

Und das haben Sie dann in den bisherigen drei Projekten der Genossenschaft Kraftwerk1: Hardturm, Heizenholz und Zwicky-Süd umgesetzt? 
Wir entwickelten unsere Konzepte auf dieser Grundlage und in intensiven, partizipativen Prozessen. Es geht nicht mehr um die Abgrenzung gegenüber der bestehenden Gesellschaft, sondern darum, den Realitäten gerecht zu werden – auch wenn diese halt etwas komplizierter sind, als es sich ein normaler Pensionskassen-Immobilienverwalter vorstellt.

Im Heizenholz sind die Cluster-Wohnungen entstanden, eine offene Mischform zwischen Kleinwohnung und WG. Sie wird im Moment viel diskutiert und in verschiedenen Projekten umgesetzt. Ist sie tatsächlich eine Zürcher Erfindung?
Ja, das gab es vorher in dieser Form nirgends. Wir haben sehr viele Anfragen von Interessierten aus dem In- und Ausland, die sich bei uns über diese Cluster informieren wollen. Wir könnten dazu fast jeden Tag Führungen veranstalten. Im neuesten Projekt der Genossenschaft «mehr als wohnen» auf dem Hunziker-Areal in Leutschenbach haben wir diese Idee weiterentwickelt. Es gibt dort etwa 15 Clusterwohnungen für grosse Lebensgemeinschaften und auch für betreute Wohnformen. Wie wir die Wohnform nennen sollen, wissen wir übrigens noch nicht so genau. Neben Cluster- kursiert auch das Wort Satellitenwohnung.

Wie muss man sich diese Wohnform konkret vorstellen?
Solche Wohnungen bieten private Rückzugsmöglichkeiten mit eigener Teeküche und Nasszelle, verbunden mit grossen Gemeinschaftsräumen und einer Gemeinschaftsküche. Die Bewohner organisieren sich selber. Es hat uns sehr fasziniert, wie die jungen Architekten, die den Wettbewerb gewannen, diese anspruchsvolle Aufgabe gelöst haben. 

Ist «mehr als wohnen» eine Fortsetzung der «Kraftwerk1»-Projekte?
Mehr als das. Hier gelang es die jungen Genossenschaften mit den etablierten für die gemeinsame Gestaltung eines Grossprojektes zusammenzubringen . «mehr als wohnen» ist ja eine Gründung von über 30 Zürcher Gemeinnützigen. Damit haben die Ideen der Pioniere die Nische verlassen.

«Die Übergänge vom Projekt in den Alltag sind nie kofliktfrei.»

Gibt es noch mehr modellhafte Aspekte, die auf dem Hunziker-Areal verwirklicht wurden?
Wir haben bestehende Ansätze weiterentwickelt, etwa die Zusammenarbeit mit Institutionen. So sind verschiedene Behinderten-Wohngruppen in die Siedlung integriert. Das funktioniert extrem gut. Die Behinderten finden es toll, nicht mehr in einem Heim, sondern in einem «normalen» Haus zu leben. Einige Wohnungen sind fest an den Verein Domicil vermietet, der diese vor allem an grössere Ausländerfamilien vermietet, die es auf dem zürcherischen Wohnungsmarkt besonders schwer haben. Die gemischte Erdgeschossnutzung mit Läden, Dienstleistungen und Ateliers hat sich ebenfalls bewährt und wird heute von vielen Genossenschaften bei Neubauten übernommen. Sodann haben wir auch ein Hotel integriert. 

Ein Hotel?
Die Grösse der Siedlung ermöglichte es anstatt einiger Gästezimmer gleich ein kleines Hotel einzurichten. Die Bewohner können hier zu Vorzugsbedingungen ihren Besuch unterbringen. Freie Zimmer vermieten wir auf dem Hotelmarkt. Zusammen mit Gemeinschaftsräumen, welche über den Tag auch für Seminare genutzt werden können, ist eine Infrastruktur entstanden, die uns den ganztägigen Betrieb einer Reception erlaubt. Es entstehen Synergien, welche die Betriebe in der Umgebung schätzen, die aber auch den Bewohnern zugute kommen.

Ein schönes Beispiel für eine gelungene Durchmischung. Neben diesen Erfolgen gab es aber sicher auch Fehlschläge und Enttäuschungen, oder nicht?
Natürlich sind diese Projekte auch anstrengend und sie enttäuschen teilweise Erwartungen. Wir mussten lernen, die Pionierprojekte in den Alltag zu überführen. Solche Projekte schüren hohe Erwartungen und Hoffnungen auf ein gänzlich neues Leben. Manche meinten, sie finden neue Beziehungen, einen besseren Job, eine schönere Frau, wenn sie einziehen. Das kann nur enttäuscht werden. Der Chef am Arbeitsplatz bleibt ja derselbe, auch wenn ich in einem Cluster wohne. Dann braucht es Organisation, man muss Gemeinschaftsprobleme lösen, eine Buchhaltung führen, verwalten etc. Die Anstrengung über eine lange Zeit kann, wenn das Projekt geschafft ist, so etwas wie eine Nachgeburts-Depression auslösen. Auch mit viel Erfahrung und offener Kommunikation sind die Übergänge von der Projektphase in den Alltagsbetrieb nie konfliktfrei.

Doch dies brachte die Projekte nicht zum Kippen. Es gibt sie alle noch. Also insgesamt ein grosser Erfolg?
Ja, und die Grunddynamik ist auch immer noch da. Die Siedlungen sind offen und flexibel geblieben. Wenn sich irgendwo ein Bedürfnis zeigt, tun sich Leute zusammen und bilden eine Gruppe. Manche von ihnen gehen auch wieder ein. Wichtig ist jedoch, dass das Potenzial zur Aneignung und zur Transformation lebendig bleibt.

Der Wohnpionier Andreas Hofer

Andreas Hofer (54) ist Architekt und Projektentwickler in Zürich. Er ist als Berater bei der Entwicklung der Siedlungen der Genossenschaft Kraftwerk1 für neue Wohn- und Lebensformen beteiligt und ist Mitglied der Geschäftsleitung der soeben realisierten 185-Mio- Überbauung auf dem Hunziker-Areal in Leutschenbach {politisch gehört Leutschenbach zu Seebach, die Parzelle von mehr als wohnen ist aber eine Exklave von Schwamendingen}, einem wegweisenden Wohn- und Arbeitsraum für 1300 Menschen. Die Genossenschaft mehr als wohnen umfasst neben Familien-, Alters- und Single- und WG-Wohnungen auch neue Formen wie Clusterwohnungen, Allmendflächen und zumietbare Zimmer. Partizipation, Nachhaltigkeit und Bezahlbarkeit werden gross geschrieben. Eine Viereinhalbzimmerwohnung kostet unter 2'000 Franken pro Monat.