07.09.2023
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Hausverkauf

Der letzte Atemzug einer Strasse

Die Müllerstrasse in Zürich hat eine bewegte Geschichte: Einst beherbergte sie jene, die die Stadt nicht sehen wollte. Heute ist sie begehrter Ort für Immobilien-Investitionen – mit fatalen Folgen.

«Mehr bezahlbare Wohnungen» steht auf einem Transparent, das an der Müllerstrasse 10 im Zürcher Kreis 4 aus einem Fenster hängt. Es ist der einzige Farbfleck an dieser in die Jahre gekommenen Fassade. Links der Liegenschaft polieren Dutzende Bauarbeiter*innen die Glasfront des neuen Google-Komplexes und im Restaurant gegenüber wird das Kaviar-Spezialangebot angepriesen. Wir sind in der gegensätzlichen Realität des Zürcher Langstrassenquartiers angekommen: Wo früher verrauchte Kneipen waren und Gastarbeiter*innen wohnten, ziehen heute internationale Konzerne ein – es entstehen Luxuswohnungen und trendige Gastronomieangebote für Gutverdienende.

Die Vergangenheit der Müllerstrasse ist lebhaft: 1922 besuchte die Enkelin des ersten Milliardärs der Welt, JD Rockefeller, die Reitanstalt St. Jakob an der Müllerstrasse. Prompt heiratete sie ihren 44-jährigen Reitlehrer, was wochenlang die Klatschspalten in Zürcher und New Yorker Medien füllte. Weniger glamourös schienen die 60er- und 70er-Jahre, als renditegetriebene Immobilienfirmen den Saisonarbeiter*innen, die sich damals im ganzen Kreis 4 niederliessen, überteuerte Appartements vermieteten. Diese Zeit prägt die Gegend bis heute, noch immer gilt es als Arbeiter*innenquartier. In den Folgejahren zog das Sexgewerbe ins Quartier, genauso wie in den 90er-Jahren die Drogenszene vom Letten – in Hinterhöfen wurde gedealt, in Waschküchen gefixt. 1996 reagierten Anwohnerschaft und Gewerbe mit der Aktion «Pro Langstrassenquartier» und sagten dem Sexgewerbe und der Drogenszene den Kampf an. Es zogen Galerien und Beizen an die Müllerstrasse, wie so oft als Vorboten der Gentrifizierung. Die Verkehrsberuhigung und der Glitzer der Europaallee ab 2014 verstärkten den Trend.

Lange waren im Quartier rund um die Müllerstrasse diejenigen zu Hause, die anderswo in der Stadt nicht gern gesehen waren. Doch diese Zeit neigt sich dem Ende zu. Heute wird an der Glasmalergasse 5 via Airbnb eine 6-Zimmer-Wohnung für 1270 Franken pro Nacht vermietet, günstiger Wohnraum verschwindet zu Gunsten von Wohnungen im Hochpreissegment.

Doch wem gehört an der Müllerstrasse eigentlich was? Ein Blick ins Grundbuch bringt rasch Muster zu Tage. Die aktuellsten Eigentumsübertragungen erfolgten praktisch alle zuhanden institutioneller Akteure: Anlage- und Vorsorgestiftungen, Immobilienkonzerne, Architekturbüros. Darunter der Immobilienkonzern Swiss Prime Site SPS, der an der Müllerstrasse 16/20 den neuen Google-Standort baut und an der Hausnummer 57 möblierte 2-Zimmer-Wohnungen für bis zu 5200 Franken pro Monat vermietet. Aber auch Stiftungen wie die Nest Sammelstiftung an der Müllerstrasse 63 oder die Vorsorgestiftung La Collective de Prévoyance an der Müllerstrasse 37, die stadtbekannte Immobilienfirma K5 Immobilien, die neu im Besitz der Gebäude an der Müllerstrasse 88 und 92 ist, oder das Architekturbüro Kissling & Roth.

Müllerstrasse 10: Widerstand trotz Baulärm

Letzteres ist Eigentümerin der Liegenschaft an der Müllerstrasse 10. Mandu dos Santos Pinto und Otto Wenk wohnen seit 13 beziehungsweise 23 Jahren an dieser Adresse. Der Mietpreis ist vernünftig, die zentrale Lage toll – doch die Aussichten sind düster. Kurz vor Weihnachten 2022 erhielten alle Mieter*innen die Kündigung und anschliessend Zwischennutzungsverträge angeboten, denn das Haus wurde verkauft. Wenk und dos Santos Pinto fochten die Kündigung an und lehnten die Zwischennutzung ab. Sie wollten um ihren Verbleib im Kreis 4 kämpfen und die Eigentümerin zu Zugeständnissen bewegen, weshalb sie an die Schlichtungsbehörde gelangten. Dort erhielten sie Recht, wie kurz vor Redaktionsschluss bekannt wurde.

Dos Santos Pinto ist selber Architekt und Urbanistik-Experte. Wie der Verkauf der Müllerstrasse 10 ablief, schockiert den Mieter. Bei einem Besuch im von Baustellen eingeklemmten Haus erzählt er von den wenigen bekannten Einzelheiten des Verkaufs: «Die ZKB hat den Kauf abgewickelt. Anscheinend lag das Anfangsangebot bei 5 Millionen Franken – für ein Haus mit zwei Gewerberäumen und drei Wohnungen. Damit war die Möglichkeit auf günstigen Wohnraum von Beginn weg vom Tisch. Warum macht das eine öffentliche Bank? Die sollte doch das Gemeinwohl der Stadt und deren Bewohner*innen im Blick haben.» Durch diese gentrifizierenden Projekte würden die Bewohner*innen, die zum Quartierleben beigetragen haben, hinausgedrängt und die Durchmischung im Quartier nehme ab. Die Nachricht, dass Google an die Müllerstrasse zieht, habe diese Entwicklung noch beschleunigt, weil plötzlich klar wurde, welche Preise dadurch an diesem Standort erzielt werden können, so dos Santos Pinto, der selber im Bereich der nachhaltigen Quartierentwicklung arbeitet.

Nach 23 Jahren Müllerstrasse scheint es auch für Otto Wenk keinen Platz mehr zu haben. Als der Architekt, der lange als Handwerker arbeitete, im Jahr 2000 ins Erdgeschoss zog, war die damalige Verwalterin froh um ihn als «seriösen» Bewerber, der selber Hand anlegen kann. Wenk konnte das «verunstaltete Objekt» selber umbauen und investierte nicht nur Leidenschaft, sondern auch viel Material und Arbeitszeit. «Hier ist mein Zuhause, durch und durch, was Otium (Musse; Anm. d. Red.) und Negotium betrifft», sagt er im Gespräch mit dem M+W. Gegenüber den Architekten Kissling & Roth üben Wenk und dos Santos Pinto scharfe Kritik: Wie bereits beim 2011 verwirklichten Bauprojekt an der Müllerstrasse 45 würden diese auch anstelle ihres Hauses einen Ersatzneubau planen, der angestammten Bewohner*innen mit «masslos überteuerten Preisen» keinen Platz mehr biete. Wenk spricht gar von «urbanistischer Verunstaltung».

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Otto Wenk und Mandu Dos Santos fochten ihr Kündigung vor der Schlichtungsstelle an und bekamen Recht. Foto: Reto Schlatter.

Angesprochen auf die Umbaupläne an der Müllerstrasse 10, sagt David Roth, Geschäftsführer und Architekt bei Kissling & Roth, das Objekt sei in einem schlechten Zustand; das Dach lecke und ein Teil des Hauses sei aufgrund des desolaten Zustands nicht vermietet, eine Renovation darum notwendig. Der Architekt, der in der Gemeinde Windisch während Jahren für die SP im Einwohnerrat sass, spricht Klartext: «Für die Liegenschaft haben wir einen hohen Preis bezahlt, der sich nach dem Entwicklungspotenzial der Liegenschaft richtete. Nur mit der Entwicklung der Liegenschaft lässt sich dieser rechtfertigen.» Oder anders gesagt: Der Kaufpreis muss wieder reingeholt werden. Wie hoch dieser effektiv ist, will David Roth nicht sagen, laut Schätzungen liegt er bei über fünf Millionen Franken. Mieter und Stadtentwickler dos Santos Pinto rechnet vor, dass bereits ein Preis von über 2,5 Millionen zu viel gewesen wäre, um günstigen Wohnraum zu erhalten. Angesichts der Machtlosigkeit, in der sich viele Mietende befinden, fordert er Massnahmen von der Politik: «Es wäre möglich, ja sogar nötig, die Mieten einzufrieren. Es braucht flankierende Massnahmen, um diese Eskalation zu stoppen. Denn seien wir ehrlich: Das ist der letzte Atemzug dieser Strasse. Danach ist sie weg. Und der Rest des Quartiers folgt schrittweise.»

Ein Teil von Kissling & Roths Geschäftsstrategie ist der Kauf von günstigem Wohnraum mit Verdichtungspotenzial, den sie renovieren und dann meist im Stockwerkeigentum verkaufen. Der Grundbucheintrag zum Bauprojekt von 2011 an der Müllerstrasse 45 bestätigt dies. Das blüht auch der Müllerstrasse 10. Aktuell sind 3- und 4-Zimmer-Wohnungen im Haus, wie gross die Wohnungen nach der Renovation sein werden, ist unklar. Sollten diese im Stockwerkeigentum verkauft werden, steht fest: Für Personen mit tiefem Einkommen wie Mandu dos Santos Pinto oder Otto Wenk ist an der neuen Müllerstrasse kein Platz mehr.

Verdrängung: Die Ärmsten zuerst

Die Müllerstrasse 10 steht exemplarisch für die Entwicklung in Zürich: Verdrängt werden in der Stadt zuerst prekarisierte Personen. Ausländer*innen haben eine um 30 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, aus ihrem Zuhause verdrängt zu werden, Alleinerziehende sind sogar doppelt so oft betroffen wie der Durchschnitt. Die Zahlen sprechen für sich: Haushalte, die von Verdrängung betroffen sind, verdienen im Monat rund 4800 Franken weniger als der kantonale Durchschnitt, wie eine Studie der ETH belegt (lesen Sie unser Interview mit dem Studienautor).

Im August 2022 rechnete der «Tagesanzeiger» vor: Die Stadtbevölkerung wuchs von 2002 bis 2018 um 9,6, die Steuereinnahmen jedoch um ganze 42 Prozent. Dabei stieg der Anteil an Gutverdienenden mit einem steuerbaren Einkommen von über 60 000 Franken im Jahr, während die tiefe Einkommensklasse zwischen 20 000 und 60 000 Franken von 45 auf 37 Prozent der Bevölkerung sank. Neben den Steuereinnahmen stiegen auch die Bodenpreise.

Laut dem Statistikamt der Stadt Zürich hat sich der Quadratmeterpreis für ein Grundstück in der Stadt seit 2010 vervierfacht (impliziter Näherungswert), der Preis für unbebautes Wohnbauland stieg laut Donato Scognamiglio vom Immobilienunternehmen IAZI um 76 Prozent. Es ist ein regelrechter Immobilien-Boom und zahlreiche Expert*innen warnen immer eindringlicher davor, dass die Blase platzen könnte.

Rolf Vieli hat diesen Boom hautnah miterlebt und geprägt. Der frühere «Mister Langstrasse» war ab 2001 Direktor des Projekts «Langstrasse PLUS». Dieses setzte Aufwertungsmassnahmen, Vieli spricht von «Verbesserung der Lebensqualität», im Quartier um. Beruhigung von Strassen, härtere Repression gegen das Drogen- und Sexgeschäft, Förderung des Kleingewerbes. Zur aktuellen Situation sagt Vieli: «Das Ziel von einem Drittel gemeinnützigen Wohnungen in der Stadt Zürich bis 2050 kann unter den gegebenen Bedingungen nicht erreicht werden.» Die Grundstückpreise seien zu hoch, kaufe die Stadt zu diesen Preisen, heize sie die Spekulation selbst an. Die Stadt hätte zwischen 2001 und 2003 die Möglichkeit gehabt, Liegenschaften zu vernünftigen Preisen zu kaufen, doch die politischen Mühlen mahlten zu zögerlich und so lösten sich viele Kaufoptionen in Luft auf. Die «Gammelhäuser» an der Neufrankengasse, die die Stadt 2017 für 26 Millionen Franken erwarb, wären damals relativ günstig zu haben gewesen, sagt Vieli mit Blick auf die Entwicklung.

Es ist ein Teufelskreis: Dank steigendem Steuersubstrat stehen der Stadt mehr Mittel zu Verfügung, um den gemeinnützigen Wohnungsbau zu fördern. Die höheren Steuereinnahmen kommen aber daher, dass Gutverdiener*innen in die Stadt drängen, und das treibt wiederum Wohnungs- und Grundstückpreise in die Höhe. Die Stadt verantwortet zudem seit Jahren eine Ansiedlungspolitik, die diese Entwicklung fördert. Mittels Standortmarketing werden multinationale Konzerne nach Zürich gelockt – inklusive deren gutverdienenden Mitarbeitenden aus dem In- und Ausland. Das bekannteste Beispiel: Google. Der Tech-Konzern wuchs am Standort Zürich innert knapp 20 Jahren von 2 auf 5000 Mitarbeitende an. Ein Grossteil von ihnen verdient 150 000 Franken oder mehr und lebt gerne in der Nähe zu den Google-Standorten im Hürlimann-Areal, an der Europaallee oder zukünftig an der Müllerstrasse.

Während der gemeinnützige Wohnungsbau in der Stadt Zürich stockt, steigen die Mieten ungebremst: seit 1989 um 84,5 Prozent. Mit den Mieten stieg in den letzten Jahren auch der Platzbedarf. Laut dem Zürcher Statistikamt vergrösserte sich die durchschnittliche Wohnfläche pro Person seit 1980 von 36 auf 41 Quadratmeter. Mit 63 Quadratmetern pro Person liegen dabei die Einpersonenhaushalte weit über dem Durchschnitt.

Dass diese einen höheren Flächenverbrauch haben, liegt auf der Hand, nutzen sie doch beispielsweise Badezimmer und Küche alleine. Aktuell sind 44 Prozent aller Stadtzürcher Wohnungen Einzelhaushalte, Tendenz steigend. Darauf reagiert auch der Markt, wie das Bauvorhaben an der Müllerstrasse 8, in Nachbarschaft zu Otto Wenk und Mandu dos Santos Pinto, zeigt.

1- und 2-Zimmer-Wohnungen neben Google

Das Haus an der Müllerstrasse 8, gleich neben der Kasernenstrasse, mit Blick auf das trendige Union Diner, ist eingerüstet und ausgehöhlt. Im Haus mit Baujahr 1884 war zuletzt eine Kita über vier Stockwerke eingemietet und je eine 3- und 4-Zimmer-Wohnung waren bewohnt. Nun hat die Kita gekündigt, das Haus wird kernsaniert und in 1- und 2-Zimmer-Wohnungen umgebaut.

«Das Ganze muss sich auch rechnen», so der Eigentümer Urs Stocker. Stocker will das Haus in eine Minergie-Liegenschaft umbauen und so viel wie möglich vom alten Bau erhalten. Der Umbau ist aber nicht nur deswegen aufwändig: «Die Auflagen der Stadt Zürich über behindertengerechtes Bauen zwangen uns, das Hochparterre aufzugeben und einen Lift einzubauen.»

Stocker, der in vierter Generation die Gipfeli-Dynastie Bäckerei Stocker führt, schwärmt vom geschichtsträchtigen Haus. Er hat ein Faible für alte Häuser, die eine Geschichte erzählen, so wie dieses. Er erzählt von gotischen Mauern im Keller und dem historischen Einfluss des Sihldeltas und beklagt sich über die Zwangsjacke der staatlichen Regulierung. Bei der Frage zu seiner sozialen Verantwortung als Hauseigentümer kommt er ins Grübeln. Er sehe die Problematik, dass Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben werden. Die Innenstadt sei attraktiv geworden, das spiegle sich in den Mieten. Auch er sehe Bedarf für Veränderung, sagt Stocker, selber sieht er sich als Eigentümer aber nicht in der Verantwortung. Gleichzeitig warnt er vor staatlichen Eingriffen in den Wohnungsmarkt: «Ich bin Unternehmer und Handwerker. Ich bin dagegen, dass der Staat alles finanziert.»

Eine andere Lösung hat Stocker aber auch nicht bereit. Wie viel die 1- und 2-Zimmer-Wohnungen, die an der Müllerstrasse 8 entstehen, kosten werden, ist nicht klar, doch gutverdienende Singles von Firmen wie Google dürften sie sich problemlos leisten können. An Orten wie der Müllerstrasse wird für ihr Geschäft und für ihr Wohnbedürfnis Platz geschaffen.

Es geht auch anders: Müllerstrasse 25

Dass es auch anders geht, zeigen die Eigentümer an der Müllerstrasse 25, nur ein paar Meter weiter, gegenüber dem zukünftigen Google-Standort. Für eine 3-Zimmer-Wohnung bezahlen die Mieter*innen 1360 Franken. Roger Weber, Mitinhaber von weberbrunner Architekten, erklärt: «Meine Familie ist schon lange Miteigentümerin der Müllerstrasse 25. Zum Zeitpunkt des Erwerbs der Liegenschaft waren die Mietzinse ‹normal›. Wir passten sie jedoch nicht kontinuierlich dem Niveau des Quartiers an, sondern orientieren uns am Ursprung, dem Erwerb der Liegenschaft. Das sind wir der Stadt schuldig.»

Das Haus wurde vor vielen Jahren erworben und die Schuldenlast ist entsprechend klein – der Grundbucheintrag ist auf das Jahr 1982 datiert. Das erlaubt auch bei moderaten Mieten eine kleine Rendite. Eine Erhöhung des Mietzinses gäbe es vielleicht, wenn sie das Gebäude um einen Stock erhöhen würden, um zusätzlichen Wohnraum zu schaffen. Aber auch dann stehe eine günstige Miete im Vordergrund: «Sollten wir uns für eine Aufstockung entscheiden, werden wir die Mieten der ursprünglichen Wohnungen nicht erhöhen. Den Mietzins für die neuen Wohnungen berechnen wir auf der Basis der Investition, nicht ausgehend vom Marktpreis. Das ist ein ideologischer Entscheid.»

Gemeinnützige habens schwer

Doch die Müllerstrasse 25 ist ein Tropfen auf den heissen Stein. Die Wohnsituation in der Stadt Zürich ist prekär, bedroht sind die wenig Privilegierten. Mit den tiefen Mietpreisen wollen sie einen Beitrag zur Durchmischung der Stadtbevölkerung leisten und ihre Verantwortung als Eigentümer wahrnehmen. Zusätzlich brächten moderate Mietzinse eine langfristige Mieterschaft, sprich weniger Wechsel, und somit Beständigkeit ins Haus.

Der gemeinnützige Wohnungsbau habe seinen Zenit vorerst erreicht, warnen verschiedene Stimmen. Das bestätigt auch der Immobilienberater Donato Scognamiglio: «In der Stadt Zürich sind derzeit 25 Prozent aller Wohnungen im Besitz von gemeinnützigen Wohnbauträgerschaften. Bei gleich bleibender Bautätigkeit müssten ab sofort mehr als zwei Drittel aller neu gebauten Wohnungen gemeinnützig sein, um das Ziel von einem Drittel gemeinnütziger Wohnungen in der Stadt Zürich bis 2050 zu erreichen.» Die Eigentumsverhältnisse an der Müllerstrasse deuten in eine gegenteilige Richtung, nicht eine einzige «gemeinnützige Wohnbauträgerschaft» hat in den letzten sechs Jahren an der Müllerstrasse eine Liegenschaft gekauft. Der Blick ins Grundbuch bestätigt Mandu dos Santos Pintos These: Die Stadt und gemeinnützige Stiftungen haben im Wettbewerb gegen Private keine Chance. Wer nicht mitbieten kann, fliegt raus.

Die Politik bleibt derweil beunruhigend ruhig. Ein griffiges Konzept für flankierende Massnahmen fehlt, und das angestrebte Drittel an gemeinnützigen Wohnungen wird wohl weiterhin ein Wunschtraum bleiben. Massnahmen, um den Wohnungsmarkt zu regulieren, gäbe es derweil genügend. Mietendeckel, Spekulationsverbote, Vorstösse zu Enteignungen wie in Berlin oder jüngst in der Schweiz oder Einschränkungen für die Vermietung von Ferienwohnungen, wie kürzlich in Luzern verabschiedet. Ein erster Schritt ist jedoch in Sichtweite: Am 18. Juni stimmt die Stadtbevölkerung über einen Wohnraumfonds ab, der dem Erreichen des Drittelsziels zudienen soll. Der 300 Millionen Franken umfassende Fonds dürfte zwar kaum reichen, um die bestehenden Probleme auf dem überhitzten Wohnungsmarkt langfristig zu lösen – doch zusammen mit weiteren Massnahmen könnte es ein Anfang sein, um dem renditegetriebenen Immobiliengeschäft entgegenzuwirken und Wohnraum langfristig in die Gemeinnützigkeit zu überführen.

Derweil schreitet der fundamentale Wandel an der Müllerstrasse voran. Die vielen Baustellen zeugen vom Aufbruch, die Eigentumsverhältnisse lassen erahnen, in welche Richtung er geht. Transparente für mehr bezahlbare Wohnungen wird man an dieser Strasse in Zukunft wohl noch weniger sehen.

Autoren: Lorenz Naegeli und Reto Naegeli, Recherchekollektiv WAV

Titelbild: Reto Schlatter