Gemeinsam im Einsatz für eine solidarische Stadt
Um gegen Leerkündigungen anzutreten, spannt der MV Zürich seit vergangenem Jahr mit der Urban Equipe zusammen. Der Zürcher Verein für zivilgesellschaftliches Engagement in der Stadtentwicklung zieht eine erste Bilanz.
Text: Manuela Gallati, Mitarbeit: Esther Banz
Leerkündigungen nehmen zu – in der Stadt Zürich in besorgniserregendem Ausmass. Und die Entwicklung steht erst an ihrem Anfang, denn noch stehen die grossen Verdichtungen bevor. Findet die Verdrängung in den zentraleren Quartieren mit einst kleinen, günstigen Wohnungen aufgrund von Gentrifizierungsprozessen schon länger statt, ist es jetzt auch in den Aussenquartieren so weit. Also genau dort, wo in Siedlungen aus der Nachkriegszeit besonders viele vulnerable Menschen leben, insbesondere auch ältere. Das zeigt das sozialräumliche Monitoring, mit dem die Stadtentwicklung die Bevölkerungsdaten mit der aktuellen Bau- und Zonenordnung (BZO 2016) überlagert. «Es wird in diesen Quartieren kein Stein auf dem anderen bleiben», fasst Antonia Steger (links im Bild) von der Urban Equipe die zu erwartende Entwicklung zusammen.
Steger hat Kulturanalyse und Linguistik studiert. Sie und Sabeth Tödtli, Architektin und Urbanistin, haben gemeinsam mit anderen den Verein Urban Equipe gegründet, mit dem sie sich bereits seit einigen Jahren für vielstimmige, solidarische Städte einsetzen. Aktuell sind sie im Kernteam zu viert und arbeiten alle hundert Prozent. Von einem kleinen Büro in einem zwischengenutzten ehemaligen Kinderheim im Zürcher Sihlfeld-Quartier aus initiieren sie partizipative Prozesse für Quartierentwicklungen, vertiefen sich in komplexe städtische Planungsinstrumente, machen Wissen zugänglich – und vieles mehr. Das Handbuch mit dem Titel «Organisiert euch!», das die Urban Equipe 2021 zusammen mit dem Wiener Kollektiv Raumstation herausgegeben hat, wurde von der Fachzeitschrift «Hochparterre» jüngst mit dem «Silbernen Hasen» gewürdigt.
Einsatz für bezahlbaren Wohnraum
Seit letztem Jahr verbringen Antonia Steger und Sabeth Tödtli auch viel Zeit mit Mieter*innen. Denn der MV Zürich und die Urban Equipe sind 2021 eine Kooperation eingegangen, um gegen die zunehmenden Leerkündigungen anzutreten. Walter Angst vom MV Zürich erzählt: «Die Urban Equipe bringt viel Erfahrung in städtebaulichen Fragen und der Initiierung von Partizipationsprojekten mit. Mit diesem Wissen ergänzen sie unsere Expertise im Mietrecht und der Wohnpolitik ideal, um das Thema Leerkündigungen und Verdrängung mehr in die öffentliche Wahrnehmung zu rücken.»
Die Zusammenarbeit mit der Urban Equipe ermöglicht es dem MV Zürich, mehr Betroffenen zu zeigen, wie sie sich für ihre Rechte einsetzen können. Auslöser für die «Partnersuche» des MV Zürich war ein Aufruf Ende 2020 an Mieter*innen, die von einer Leerkündigung bedroht waren oder fürchteten, damit konfrontiert zu werden. Es meldeten sich viele. Walter Angst: «Wir wurden regelrecht geflutet mit Nachrichten und haben schnell gemerkt, dass wir eine starke Partnerin brauchen.» Für die Urban Equipe kam die Anfrage zur rechten Zeit: «Wir hatten schon länger den Wunsch, uns konkreter für bezahlbaren Wohnraum einzusetzen», sagt Sabeth Tödtli.
Von Wohnung zu Wohnung weitergereicht
Die Urban Equipe nimmt seither zusammen mit dem MV Zürich Kontakt mit betroffenen Mieter*innen auf, die sich melden. «Wir befassen uns mit jeder einzelnen Meldung. Es ist hart, die Einzelschicksale dahinter zu erleben», sagt Antonia Steger. Manche «Verdrängungsorte» seien gross, andere klein, erzählt sie. An manchen Orten seien privilegiertere Menschen betroffen, aber oft auch sehr vulnerable. Viele Betroffene fänden schlichtweg keine Wohnung in derselben Grösse zu einem ähnlichen Mietpreis und müssten aus der Stadt wegziehen, obwohl sie das nicht wollten. Nicht wenige müssten zum wiederholten Mal wegen Sanierung oder Abriss umziehen: «Meistens sagt die Verwaltung bei der Vertragsunterzeichnung nichts, auch wenn bereits klar ist, dass in absehbarer Zeit saniert oder abgerissen wird. So ist es mehreren ergangen, die sich bei uns gemeldet haben.»
So zum Beispiel auch einer jungen Frau mit Beistand. Bevor sie vergangenen Herbst eine neue Wohnung bezog, sei sie wiederholt von Wohnung zu Wohnung weitergereicht worden – im wahrsten Sinne des Wortes. «Und nur zwei Monate nach Einzug», erzählt Steger, «erhielt sie erneut die Kündigung – zwei Tage vor Silvester. Die Verwaltung hatte bei der Vertragsunterzeichnung längst gewusst, dass eine Sanierung ansteht.» Dabei gäbe es viele gute Alternativen zur gängigen Praxis der Leerkündigung: zum Beispiel ein vorübergehender Auszug, ein etappierter Umbau oder ein Wiedereinzugsrecht. «Neben der Mobilisierungsarbeit bei den Mieter*innen suchen wir darum auch das Gespräch mit den Eigentümer*innen. Es sind zwar bisher nur die wenigsten bereit, sich mit uns an den Tisch zu setzen. An den laufenden Gesprächen bleiben wir jedoch weiter dran und sind gespannt, wo diese uns hinführen», berichtet Antonia Steger. «Nebst der Verhinderung unnötiger Kündigungen ist es uns auch ein Anliegen, dass die Bewohner*innen bei Sanierungs- oder Neubauprojekten von Anfang an durch die Eigentümerschaft offen und transparent informiert werden. Es ist einfach ein ungutes Gefühl, wenn man nicht weiss, was wann geschehen wird. Es geht für die Menschen um einschneidende Veränderungen.»
Gesellschaftliches Umdenken anstossen
Dieser für die ganze Gesellschaft gefährlichen Entwicklung der zunehmenden Verdrängung durch Leerkündigungen will die Urban Equipe entgegenwirken. Das ist eines der dringenden Ziele des Vereins, nachdem Antonia Steger und Sabeth Tödtli in den vergangenen Monaten an vielen Orten direkt gesehen haben, was läuft. Und nachdem sie jetzt «noch besser verstehen, wie die Immobilienbranche funktioniert», so die beiden Frauen. Denn: «Ja», ergänzt Sabeth Tödtli, «ich bin in Zürich geboren, aber diese Stadt befremdet mich zusehends – ich will nicht an einem Ort leben, an dem so viele und immer mehr Ausschlüsse produziert werden. Abgesehen davon können wir uns das Leben in Zürich eh bald selbst nicht mehr leisten, ganz ehrlich gesagt.»
Die Urban Equipe erhofft sich, dass mit den zahlreichen aufkeimenden Diskussionen ein gesellschaftliches Umdenken angestossen wird. Sabeth Tödtli: «Es braucht ein neues Bewusstsein, bei allen Beteiligten, auch in den Ämtern und an den Verhandlungstischen. Da, wo Entscheidungen getroffen werden. Auch Architekt*innen müssen neue Praktiken entwickeln – zum Beispiel mutiger darin werden, bestehende Bausubstanz zu transformieren und ihre eigene Berufsrolle neu zu fassen. Wir brauchen ein breites Bekenntnis dafür, nicht mehr einfach alles abzureissen und Neues hinzustellen, sondern an einer solidarischen Stadt mit Wohnraum für alle weiterzubauen.» Und Antonia Steger ergänzt: «Das Bedürfnis der Menschen, mit denen wir in Kontakt sind, ist eigentlich sehr einfach verständlich: Sie möchten in einer für sie bezahlbaren Wohnung wohnen, die ihnen Freiheit für verschiedene Nutzungsmöglichkeiten gibt und wo sie nicht ständig Angst haben müssen, dass ihnen gekündigt wird.
Die direkte Zusammenarbeit zwischen dem MV Zürich und der Urban Equipe soll denn auch weitergehen. Und auch wenn ein erstes Finanzierungsgesuch dafür kürzlich gescheitert ist – die Urban Equipe bleibt dran an der Idee eines «Mieten-Mobils», mit dem sie die Mieter*innen dort kontaktiert und in ihren Rechten unterstützen kann, wo sie sind: bei sich zu Hause.
Buch «Organsiert euch!»
Herausgegeben von der Urban Equipe und dem Wiener Kollektiv Raumstation versammelt das Handbuch «Organisiert euch!» auf 350 Seiten Tipps und Anleitungen zu partizipativen Prozessen. Konkrete Anleitungen und Vorlagen zum Herunterladen helfen bei der Arbeit als engagierte Gruppe – für Anfänger*innen und Fortgeschrittene.
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