Beim Abwägen die Menschen vergessen
Der Stadtrat will, dass Zürichs Verdichtung sozialverträglich geschieht. Doch auch dort, wo die Behörden Einfluss nehmen könnten, tun sie es nicht mit dem nötigen Nachdruck – das zeigt unser Beispiel aus Zürich-Affoltern.
Text: Esther Banz
Das neunstöckige Wohnhaus an der Lerchenhalde 20 soll abgerissen werden. Wann, weiss niemand genau. Am 7. Mai 2019 fischten alle Mietenden der 48 Wohnungen ein Schreiben der Genossenschaft Turicum aus ihrem Briefkasten. Es fing an mit: «Es ist für uns nicht angenehm, die nachfolgende Mitteilung machen zu müssen …». Seither schweigt die Vermieterschaft.
Franco Schneeberger wohnt seit zwanzig Jahren in der Lerchenhalde. Franziska Kümin war erst gerade eingezogen, als die Baugenossenschaft ihr den geplanten Abriss ankündigte. Auf «mindestens Mitte 2022». Die Genossenschaft wusste also bereits, dass die neue Mieterin schon bald wieder würde ausziehen müssen – und sagte nichts.
Die Menschen im Haus, unter ihnen viele ältere, fragen sich mehrmals am Tag, wie lange sie noch hier leben können – auch Franco Schneeberger und Franziska Kümin. Sie können nicht verstehen, dass die Baugenossenschaft mit städtischer Vertretung im Vorstand das Haus in den bald fünfzig Jahren seines Bestehens nie renoviert hat: «Die Fenster sind undicht. Der Fahrstuhl bleibt immer wieder stecken. Dass es Renovationsarbeiten braucht, sagen wir schon lange. Aber abreissen?»
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- Bild: Reto Schlatter
Stadt mit grösstem Anteil am Kapital
Die Lerchenhalde 20 ist eine von mehreren Siedlungen der Baugenossenschaft Turicum. Bei den meisten Zürcher Baugenossenschaften sind die Mietenden Mitglieder und haben Mitspracherechte. Nicht so bei der Turicum – ihre Mitglieder sind Gewerbebetriebe, KMU oder deren Pensionskassen, Versicherer, eine Bank und eben auch die Stadt Zürich. Sie hält mit 374 600 Franken sogar den grössten Anteil am Genossenschaftskapital, was mit dem ursprünglichen Zweck der Genossenschaft zu tun hat: Es herrschte bereits in der Zeit der Gründung (Ende der 1950er-Jahre) akute Wohnungsnot. 1972/73 baute die Genossenschaft Turicum die Lerchenhalde 20 – auf Land, das die Stadt ihr zuvor günstig verkauft hatte; ein aus heutiger Sicht nicht nachvollziehbarer Schritt. Immerhin: Die Genossenschaft wurde verpflichtet, 23 der 48 günstigen Wohnungen an ältere Menschen zu vermieten. Aber jetzt verzichtet die Stadt auch noch auf diese Auflage – eine Grundbuchänderung auf Antrag der Genossenschaft wurde über den städtischen Vertreter im Vorstand eingefädelt und vom Stadtrat diskussionslos bewilligt. Begründet wurde sie mit dem Argument, die Lage sei nicht ideal für Alterswohnungen, da Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe fehlten.
Perfekte Alterswohnungen
In den 1,5- und 2,5-Zimmer-Wohnungen der Lerchenhalde leben viele Menschen schon lange, inzwischen sind sie über 70, 80, ja sogar über 90 Jahre alt. Sie alle wohnten in der vermeintlichen Gewissheit hier, bis ans Lebensende bleiben zu können. Eine perfektere Alterswohnung können sie sich nicht vorstellen, sagen alle, mit denen wir an einem Nachmittag im Spätwinter sprechen. Es hat zwei Fahrstühle, im Haus kennt man sich und schaut zueinander, der Kontakt ist quer über die Stockwerke eng und fürsorglich.
Max Zuber wird dieses Jahr 92 Jahre alt. Bis seine Frau Margrit starb, wohnten sie zu zweit in der 2,5-Zimmer-Wohnung, seither ist er alleine. Die Spitex kommt mehrmals am Tag vorbei – und ebenso regelmässig schauen Franco Schneeberger oder Franziska Kümin nach ihm, richten ihn im Sessel auf, wenn er zur Seite geknickt ist, reichen ihm den Trinkbecher. Der Radius des einst begeisterten Sportlers hat sich auf wenige Quadratmeter verkleinert. Aber er ist zufrieden, macht Scherze. «Ich habe ihn noch nie klagen gehört», sagt Franco Schneeberger. Max Zuber soll verpflanzt werden? Allein der Gedanke daran schmerzt.
Auch Viktor Bürki lebt seit bereits 25 Jahren in der Lerchenhalde. «Ich mache nicht mehr viel, aber solange ich selbständig wohnen kann, ist es gut.» Er hatte bereits auf eigene Faust eine Alterswohnung gefunden, die hätte er aber innerhalb eines Monats beziehen müssen, «so schnell kann ich nicht mehr». Von der Verwaltung habe er seit dem Schreiben von 2019 nie wieder etwas gehört, wie alle andern: «Man erfährt nichts.»
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- Bild: Reto Schlatter
Kindergarten statt Alterswohnungen
Das Wohnhaus, das vom renommierten Architekten Theo Hotz erstellt wurde, steht hinter der ETH Hönggerberg harmonisch in der Landschaft. Zusätzliche hindernisfreie, günstige, gut erschlossene Wohnungen für ältere Menschen braucht die Stadt heute noch immer dringend – Tausende davon. Man würde denken: Wo sich Chancen bieten, ergreift die Stadt diese auch. Aber mit der Lerchenhalde 20 machte sie genau das Gegenteil, als sie die Genossenschaft Turicum vor zwei Jahren aus ihrer Alterswohnungs-Verpflichtung entliess. Die Stadt stellte damit eine Weiche für den Ersatzneubau, den die Genossenschaft Turicum zusammen mit der Baugenossenschaft Hagenbrünneli auf dem Areal plant: drei komplett neue Häuser mit insgesamt 150 Wohnungen. Anstelle der 23 Turicum-Alterswohnungen soll es einen Kindergarten geben, so der Deal. Gleichzeitig entstehen im Hagenbrünneli-Haus 48 Wohnungen – für ältere Menschen (interessant: die Genossenschaft preist explizit die nahen Einkaufsmöglichkeiten an). In diesen könnten die älteren Menschen, die jetzt in den Turicum-Alterswohnungen leben, ein neues Zuhause finden, an Ort und Stelle. Immerhin. Aber – das ist nicht vorgesehen. Bei der Planung des Gemeinschaftsprojekts Turicum-Hagenbrünneli wurden die Turicum-Mietenden ausgeblendet und es wurde Stillschweigen vereinbart. Ein städtischer Vertreter sass zum Zeitpunkt der Planung bei der Genossenschaft Turicum im Vorstand, eine Vertreterin des Amtes für Städtebau war in den Studienwettbewerb involviert.
Eine verpasste Chance
Das Amt für Städtebau wusste bereits 2018, dass das Haus an der Lerchenhalde 20 abgerissen werden soll. «Und sie haben einfach alles durchgewinkt», sagt AL-Gemeinderat Walter Angst vom MV Zürich: «Dabei hätte dies ein Vorzeigeprojekt werden können. Man hätte das bestehende Hochhaus für weitere dreissig Jahre fit machen und daneben neu bauen können, es hätte ein Mix aus Alt und Neu werden können. Und auch die Voraussetzungen fürs etappierte Bauen wären perfekt gewesen mit den 268 bestehenden Wohnungen der Baugenossenschaft Hagenbrünneli in den direkt daneben liegenden Häusern. Kurz: Man hätte zeigen können, wie sozial nachhaltiges Erneuern geht.»
In ihrem Leitfaden «Erfolgsfaktoren nachhaltiger Ersatzneubauten und Sanierungen» empfiehlt die Stadt den Einbezug der Mieterschaft in Ersatzneubau- und Sanierungsprojekte, denn so liessen sich «Mängel erkennen, Bedürfnisse abholen, Fragen beantworten und Feedbacks zum Umsetzungsprojekt sammeln». Die existenziell betroffenen Menschen miteinzubeziehen, wäre verantwortungsvoll und sollte selbstverständlich sein. Urs Frei, Präsident der Baugenossenschaft Turicum, sagt: «Das machen wir nicht.» Auf die Frage nach dem Warum erklärt er: «Unsere Mietenden haben kein Stimmrecht. Es war ein Abwägen im Vorstand – und wir haben uns dafür entschieden, den Ersatzneubau zu machen. Der Beizug der Mietenden würde das Projekt in die Länge ziehen und verteuern.» Man habe sehr sorgfältig abgewogen. Die Abwägungen berücksichtigen aber die existenziellen Interessen der betroffenen Menschen nicht.
Man muss Turicum zugute halten, dass sie den Mietenden Angebote für neue Wohnungen macht, in vierzehn Fällen bereits erfolgreich: In der benachbarten Genossenschaft Hagenbrünneli erhalten Turicum-Mietende bevorzugt eine Wohnung. Aber mehrere Betroffene berichten von Wohnungsangeboten in anderen Stadtgebieten respektive sogar ausserhalb der Stadt – wo doch gerade für ältere Menschen die bestehenden nachbarschaftlichen Strukturen so wichtig sind.
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«Unsere Wohnung ist wunderschön»
Albert und Erika Frei sind 90 und 89 Jahre alt, seit sechzig Jahren wohnen sie im Quartier, 15 davon in diesem Haus. Eine Tochter wohnt ganz in der Nähe. Der Hausarzt ist auch in der Umgebung, ebenso der Zahnarzt. «Einmal hat die Verwalterin unsere Tochter angerufen und gesagt, sie mache sich Sorgen um uns. Aber sie macht sich nicht Sorgen um uns. Sie sorgt sich einfach, dass sie uns nicht rauskriegt.» Als Erika und Albert Frei hören, dass die Baugenossenschaft Turicum der Meinung ist, ihre Wohnungen seien nicht für ältere Menschen geeignet, entfährt beiden ein spontanes «Also nein!». Albert Frei sagt: «Unsere Wohnung ist wunderschön. Wir sind mehr als zufrieden.» Turicum-Präsident Urs Frei sagt, er habe Verständnis «für die älteren Menschen, die das Gefühl haben, diese Wohnsituation stimme für sie. Sie haben jahrelang in dieser Situation gewohnt und für sie passt das wahrscheinlich.»
Urs Frei ist überzeugt, dass seine Baugenossenschaft richtig handelt. Von der Stadt wird er darin bestätigt, das zeigen die Antworten des Stadtrats auf die schriftlichen Anfragen aus dem Gemeinderat in Sachen Lerchenhalde 20. Der Stadtrat gesteht damit die Mängel der flankierenden Massnahmen ein, die er sich für eine sozialverträgliche Entwicklung ausgedacht hat.
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- Bild: Reto Schlatter
Kommt es doch noch zum Dialog?
Die Baugenossenschaft Turicum will dieser Tage ihr Baugesuch einreichen. Einsprachen braucht sie nicht zu befürchten – die Nachbarn der Lerchenhalde 20 sind die Stadt mit einer eigenen Siedlung, Tennisplätzen, einem Schulhaus, die Projektpartnerin Genossenschaft Hagenbrünneli und zwei weitere Genossenschaften.
Wenige Tage vor der Einreichung des Baugesuchs schickt Präsident Urs Frei M+W auf Nachfrage die Korrespondenz mit der ETH betreffend Fernwärmeversorgung. Daraus wird ersichtlich, dass die ETH die Fernwärme nicht schon 2021 oder 2022 kappt, wie es im Schreiben an die Mietenden vor zwei Jahren hiess, sondern dass sich die Pläne verzögern. Und dass die Genossenschaft auf Wunsch auch Anschluss an die neue Wärmeversorgung der ETH Hönggerberg erhalten wird. Beides erfuhr die Genossenschaft bereits 2019 – wenige Monate nachdem sie die Mietenden über den geplanten Abriss informiert hatte.
Bis dato konnte die Genossenschaft Turicum keinen nachvollziehbaren Grund dafür nennen, warum das Haus schon so bald abgebrochen werden muss. Derweil stellte die Stadt kürzlich ihre Altersstrategie 2035 vor: «Die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Zürich sollen im Alter solange wie gewünscht und möglich im angestammten Umfeld und möglichst selbstbestimmt leben können.»
Genossenschaftspräsident Urs Frei räumt rückblickend ein, dass es ein Fehler war, die Betroffenen nicht besser informiert zu haben. Er versichert, dass niemand Angst haben müsse, schon nächstes Jahr auf Strom und Wasser verzichten zu müssen. Und dass man sicher nicht vor Januar 2022 anfangen werde zu bauen. Und im Winter die Leute umzusiedeln sei auch keine gute Idee. Er sagt: «Wir haben keinen hohen Druck. Wenn die Heizung stehen bleiben kann, können wir auch noch etwas länger Rücksicht nehmen auf die jetzigen Mieter. Das wäre durchaus möglich.» Vielleicht nimmt die Genossenschaft ja sogar noch den Dialog mit den Mietenden auf, um nach guten Lösungen zu suchen – hier böte sich nach all den verpassten Chancen noch einmal eine richtig gute.
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