Aufgeben ist nicht ihr Ding
Kaum hatte sie sich am neuen Ort eingelebt, erhielt Christina Petermann zum zweiten Mal die Kündigung. Die 78Jährige lässt sich aber nicht unterkriegen.
Text: Isabel Plana
Der Albtraum wiederholt sich. Keine vier Jahre ist es her, dass Christina Petermann wegen der anstehenden Total sanierung aus ihrer alten Wohnung im Quartier Fluntern rausmusste. 35 Jahre hatte sie dort verbracht, fast ihr halbes Leben. Und nun hat die Rentnerin schon wieder eine Kündigung am Hals. Der Block am Kienastenwiesweg in Witikon, in den sie im Frühling 2018 einzog, soll abgerissen werden und einem Neubau weichen. «Hätte ich das gewusst, wäre ich sicher nicht hier eingezogen», sagt Petermann. Dabei habe sie, als ihr diese Wohnung angeboten wurde, extra noch nachgefragt, ob in den nächsten Jahren eine Sanierung geplant sei. Die Vermieterin, die Mobiliar Versicherung, gab Entwarnung. «Es sei höchstens mit kleineren Modernisierungsarbeiten in Bad oder Küche zu rechnen, sagte man mir», erinnert sich die 78-Jährige. Eine glatte Lüge, wie sich herausstellen sollte. Im Herbst 2020 erhielt Petermann die Kündigung. Es sei ein Schock gewesen, klar. «Aber ich weiss mich zu wehren.» Wie schon 2017 wandte sie sich auch diesmal an den Mieterverband, um die Kündigung anzufechten. Denn Aufgeben ist nicht ihr Ding.
«Ich bin doch noch fit»
Christina Petermann hat in ihrem Leben schon viele Hürden gemeistert. Sie war geschieden, alleinerziehend und voll berufstätig, als das für Frauen noch keine Selbstverständlichkeit und um ein Vielfaches belastender war als heutzutage. Nach Zürich kam die gebürtige Baslerin 1966, um bei der Swissair als Hostess zu arbeiten. «Das war damals der Traum jeder jungen Frau», erinnert sie sich schmunzelnd. An der Wand hängen einige Fotos von ihr aus jener Zeit: in kurzem Rock, mit schicker Bobfrisur und kessem Blick. «Da war ich noch jung und hübsch», sagt sie lachend. Jung ist sie nicht mehr. Aber gut aussehen tut die 78-Jährige immer noch. Und mit ihrer frischen, resoluten Art wirkt sie eher wie 68. «Ich fühle mich diskriminiert», sagt sie. «Die Vermieter schauen nur auf den Jahrgang und denken sich, ‹die ist bald 80, die kann ja ins Altersheim›. Das ist eine Frechheit. Ich bin doch noch fit und sicher nicht pflegebedürftig.»
Ältere Mieter*innen zunehmend unter Druck
Dass die Hemmschwelle kleiner geworden ist, selbst älteren, langjährigen Mieter*innen zu kündigen, beobachtet auch Peter Zahradnik, Rechtsanwalt beim MV Zürich, der Christina Petermann bei der Anfechtung vertrat. «Heute erwartet man auch von Senior*innen, dass sie fähig sind, eine Lösung zu finden.» Es werde oft völlig unterschätzt, welch existenzbedrohende, lähmende Wirkung eine Kündigung insbesondere für ältere Menschen habe. «Die längeren Fristen, die die Vermieter bei Leerkündigungen mittlerweile als vermeintlich soziale Geste häufig schon von sich aus gewähren, machen es nicht viel besser», sagt Zahradnik. «Nur schon die Kündigung auf dem Tisch zu haben, löst bei älteren Menschen oft Panik aus, egal ob sie in sechs oder zwölf Monaten ausziehen müssen.» Noch schlimmer werde es, wenn immer mehr Nachbar*innen ausziehen und das soziale Umfeld wegbricht. «Der Druck nimmt dann so sehr zu, dass ältere Mieter*innen unnötigerweise ins Altersheim ziehen oder einfach die erstbeste Wohnung nehmen, am anderen Ende oder sogar ausserhalb der Stadt.» Dort kennen die Betroffenen oft niemanden und drohen zu vereinsamen.
Witikon, das neue Zürichberg?
In Witikon, dem beschaulichen Familienquartier mit Dorfcharakter, soll in den nächsten Jahren rund ein Drittel des Wohnungsbestands zwecks Verdichtung erneuert werden – vielerorts ragen Baukräne oder Bauaussteckungen in den Himmel, ganzen Siedlungen droht der Abbruch. Entsprechend hoch ist die Zahl der Wohnungssuchenden im Quartier. Unter ihnen dürften viele ältere Mieter*innen sein, denn in Witikon sind rund 20 Prozent der Bevölkerung über 70 Jahre alt – in keinem anderen Stadtzürcher Quartier ist der Anteil Senior*innen so hoch.
Mit der steigenden Nachfrage sind auch die Mieten in die Höhe geschnellt. «Im Neubau dort drüben war kürzlich eine 2,5-Zimmer-Wohnung für 3000 Franken ausgeschrieben», erzählt Christina Petermann und zeigt vom Balkon aus auf die andere Strassenseite. Sie könne sich ja ihre jetzige Wohnung – 2,5 Zimmer, 50 Quadratmeter, 1650 Franken – nur gerade knapp leisten. «Es gab zu meiner Zeit noch keine berufliche Vorsorge und als alleinerziehende Mutter konnte ich trotz Vollzeitarbeit nie viel zur Seite legen. Ich habe daher keine grossen Ersparnisse und nur eine kleine AHV-Rente mit Ergänzungsleistungen.»
Bisher waren nur wenige Angebote bezahlbar, und keines davon erfüllte Christina Petermanns Kriterien. «Ich brauche keinen Luxus. Mir reicht, was ich jetzt habe, und es macht mir auch nichts aus, wenn Bad oder Küche etwas älter sind.» Aber sie wolle auch nicht in eine heruntergekommene Bude ziehen, die in ein paar Jahren ebenfalls saniert werde. «Ich möchte, wenn kein Lift vorhanden ist, wie jetzt maximal im 1. Stock wohnen, ich werde schliesslich nicht jünger. Ich möchte meinen Hund mitnehmen können und Platz für einen richtigen Esstisch haben, damit ich meine Freunde zum Essen einladen kann. Das sind doch keine überrissenen Ansprüche, oder?»
Nein, sagt MV-Anwalt Zahradnik.
«Frau Petermanns Anliegen sind gerechtfertigt.» Die Mieter*innen dürften auf eine vergleichbare, zumutbare Wohnung hoffen. «Im Fall von Frau Petermann heisst das zum Beispiel, dass sie Anspruch auf eine Wohnung mit Haustierbewilligung hat.»
Sechs Monate mehr Zeit
Innert Jahresfrist bis Herbst 2021 eine passende Wohnung zu finden, war für Christina Petermann angesichts des umkämpften Witiker Wohnungsmarkts, ihres schmalen Budgets und der Haustierbewilligung praktisch unmöglich. Fast so unmöglich, wie eine der städtischen Alterswohnungen zu bekommen, für die sie seit 2017 auf der schier endlosen Warteliste steht. Ein klarer Härtefall also.
Peter Zahradnik konnte für die Rentnerin vor der Schlichtungsbehörde eine Mieterstreckung von sechs Monaten bis zum 31. März 2022 sowie eine kleine Entschädigung für die entstehenden Unkosten, etwa den bevorstehenden Umzug, erwirken. Die sechs Monate Erstreckung seien eigentlich ein schlechtes Resultat, sagt Zahradnik. «Da neben Frau Petermann nur eine weitere Mieterin die Kündigung anfocht, hatten wir gegen die ‹Mobiliar› mit ihrem Millionenprojekt nicht viel in der Hand. Das zeigt, wie wichtig es ist, dass sich möglichst viele Mieter*innen zusammentun und anfechten – gemeinsam kann man in der Schlichtungsverhandlung mehr Druck aufbauen.»
Christina Petermann ist trotzdem froh über die erzielte Erstreckung. «Damit habe ich wenigstens etwas mehr Zeit für die Wohnungssuche gewonnen.» Für den Fall, dass sie nichts finde, habe sie sich wie einige andere in der Nachbarschaft für eine Wohnung in der Neuüberbauung «Im Steinacher» ein paar Strassen weiter unten angemeldet. «Die Wohnungen sind aber erst im Herbst 2022 bezugsbereit. Zur Not muss ich dann halt für ein halbes Jahr zu einer Freundin oder meiner Tochter ziehen.» Das würde sie in Kauf nehmen, denn zumindest müsste sie bei einer Neubauwohnung keine Angst haben, dass sich der Albtraum einer Leerkündigung nochmals wiederholt.
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