Das Geschäft mit dem Zuhause
Zürich-Wiedikon ist im Umbruch. Man könnte auch sagen im Abbruch. Nächsten Frühling soll der Rundbau an der Ecke Birmensdorfer-/Haldenstrasse dran sein. Ende August wurde allen Mietenden gekündigt.
Text: Isabel Plana
Zwei Umzugsmänner tragen ein Bücherregal aus der Tür an der Haldenstrasse 173. Tania Longhitano, die Arme in die Seite gestützt, steht neben dem Umzugswagen und schaut wehmütig zum Fenster im zweiten Stock. «Zwölf Jahre lang war das mein Zuhause.» Auch für die anderen über hundert Bewohner*innen im Rundbau an der Birmensdorferstrasse/Haldenstrasse heisst es bald: Koffer packen. Ende August wurde allen der Mietvertrag per 31. März 2021 gekündigt, zwecks Sanierung und Neubau. «Wenigstens konnte ich noch selber entscheiden auszuziehen», sagt Longhitano. Die Tessinerin hat bereits vor der Leerkündigung etwas Neues gefunden. Ganz freiwillig geht aber auch sie nicht. «Ich habe wahnsinnig gerne hier gewohnt, das Quartier ist mein Zuhause.» Aber seit die Swiss Re die Verwaltung ihrer Liegenschaft der Livit übertragen hat, sei der Umgang mit den Mietenden rauer geworden. «Als dann auch noch Gerüchte die Runde machten, das Gebäude solle umgebaut werden, hatte ich keine Energie mehr und machte mich auf Wohnungssuche.»
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- Bild: Isabel Plana
Sanierung seit Januar bekannt
Ob da eine Strategie dahintersteckt? Die Mieter*innen zermürben, bis sie von selber gehen? Um bei den Nachmieter*innen den Mietzins erhöhen zu können oder, im Fall eines sich anbahnenden Umbaus, nur noch befristete, nicht erstreckbare Mietverträge ausstellen zu können? Das ist jedenfalls Gabriela Beelers* Eindruck. «Die letzten Monate waren sehr belastend», sagt die alleinerziehende Mutter, die wie Longhitano seit zwölf Jahren in der Haldenstrasse wohnt. Bereits Anfang Jahr habe sich in der Nachbarschaft herumgesprochen, dass die Wohnungen nur noch befristet wiedervermietet würden. «Mir war klar, dass eine Sanierung bei einem so alten Haus nur eine Frage der Zeit ist», sagt Beeler. «Aber ich ging davon aus, dass man uns frühzeitig darüber informieren würde, bevor man uns kündigt.» Das wäre in der Tat möglich gewesen. Gibt es doch bereits seit Januar Pläne, wonach der Gebäudeteil an der Birmensdorferstrasse saniert, jener an der Haldenstrasse hingegen abgebrochen und neu gebaut werden soll. Dies geht aus der Dokumentation des Architekturbüros hervor, das den von der Swiss Re lancierten Studienwettbewerb gewonnen hat.
Nicht nur blieb die frühzeitige Information der Mieter*innen aus. Selbst auf Gabriela Beelers konkrete Nachfrage im April ging die Livit zunächst nicht ein. «Nach mehreren Anrufen und nachdem ich von einem Sachbearbeiter zum nächsten durchgereicht wurde, bestätigte man mir am Ende, dass die Mietverträge gekündigt würden. Wann es so weit sein würde, sagte man mir aber nicht.» Vier Monate später lag die Kündigung im Briefkasten. Obwohl es sich abgezeichnet hatte, sei es ein Schock für sie gewesen, erzählt Beeler. «Bei der Vorstellung, dass ich in einem halben Jahr kein Zuhause mehr haben würde, fühlte ich mich in meiner Existenz bedroht. Wie soll ich in der kurzen Zeit eine vergleichbare, zahlbare Wohnung finden? Erst recht in diesem Quartier?» Sie wandte sich an den MV Zürich.
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- Bild: Isabel Plana
Anfechten, um Zeit zu gewinnen
Mitte September lud der MV Zürich alle Bewohner*innen der Liegenschaft zu einer kostenlosen Beratung ein und informierte sie über die Möglichkeit einer Anfechtung. Rückgängig machen lässt sich eine Kündigung auf diese Weise zwar nur selten. Aber zumindest wird den Betroffenen häufig eine Erstreckung gewährt. So gewinnen sie Zeit, um eine vergleichbar gute und zahlbare Wohnung zu finden. Im Fall des Hauses Birmensdorferstrasse/Haldenstrasse ist das besonders wichtig. Denn die Menschen, die hier wohnen, sind keine Grossverdienenden. Es sind viele Familien – zum Teil ökonomisch schwache mit wenig Deutschkenntnissen –, Student*innen und Senior*innen. Sie sind auf günstigen Wohnraum angewiesen und können sich keine 3,5-Zimmer-Wohnung für 3300 Franken leisten, wie sie kürzlich in einem Neubau ein paar Blöcke weiter angeboten wurde. Klar, sie können woanders hinziehen, wo es günstiger ist, vielleicht sogar aus der Stadt raus. Aber «vergleichbare Wohnung» heisst eben nicht nur preislich vergleichbar, sondern auch in der Nähe des bisherigen Wohnorts, damit das soziale Umfeld erhalten bleibt: die Kita, die Schule, der Sportverein, Freund*innen. Für Familien ist das entscheidend, genauso wie für ältere Leute, die oft schon Jahrzehnte an einem Ort wohnen und stark im Quartier verwurzelt sind. So wie Gabriela Beelers Nachbarin, die 90-jährige Pia Truninger*. «Im Haus gegenüber wohnt, glaubʼ ich, eine Freundin von ihr. Die beiden winken sich oft über die Strasse zu», erzählt Beeler.
Die Kündigung habe seine Mutter wahnsinnig mitgenommen, sagt Felix Truninger*. «Sie wohnt ja schon seit 53 Jahren hier.» Und auch für ihn sei es nicht einfach, obwohl er selber nicht hier wohnt. «Ich bin in diesem Haus aufgewachsen, viele Kindheitserinnerungen sind damit verbunden.»
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Tierschutz strenger als Mieter*innenschutz
Nicht nur Pia Truninger hat ihren Sohn hier grossgezogen. Unter dem Dachvorsprung des bald 100-jährigen Gebäudes haben schon Dutzende Generationen von Alpenseglern gebrütet. «Mit fünfundzwanzig Brutpaaren nistet hier die grösste Alpensegler-Kolonie der Stadt Zürich», bestätigt die Zoologin Iris Scholl. Alpensegler sind von Gesetzes wegen geschützt. Sie dürfen während der Brutzeit von Mai bis August nicht gestört werden, ihre Nistplätze müssen bei einem Umbau erhalten bleiben oder ersetzt werden. Das könnte die Sanierungs- und Neubaupläne an der Birmensdorferstrasse/Haldenstrasse verzögern.
Verlassen können sich die Mieter*innen darauf freilich nicht. Sie müssen sich auf Wohnungssuche begeben. Auch wer wie Gabriela Beeler die Kündigung angefochten hat, muss sich nachweislich um eine neue Wohnung bemühen. In den vergangenen Monaten hat sich Beeler auf Dutzende von Wohnungsinseraten gemeldet, in und ausserhalb der Stadt. Nur bei einem Bruchteil bekam sie überhaupt einen Besichtigungstermin. Sie lächelt gequält. «Bei einer der wenigen öffentlichen Besichtigungen stand ich nach zweieinhalb Stunden noch immer in der Schlange, als sie uns alle nach Hause schickten, weil der Termin zu Ende war.»
Anfang Oktober dann die gute Nachricht für Gabriela Beeler: Sie kann in eine Genossenschaftswohnung einziehen. Die ist zwar kleiner und der Mietvertrag nur befristet, aber wenigstens ganz in der Nähe. «Ich bin dankbar, dass ich im Quartier bleiben kann und keine neue Kita für meinen Sohn suchen muss.» Aber die Vorfreude hat einen bitteren Beigeschmack. Zu schwer wiegen die Angst, Wut und Enttäuschung der vergangenen Monate. «Für uns ist das hier ein Zuhause, für die Immobilienfirmen einfach nur ein Geschäft.» In zwei Wochen wird auch Gabriela Beeler wehmütig zu ihrer alten Wohnung hochschauen, während die Umzugsmänner ihr Hab und Gut in einen Transporter packen werden.
Unruhe im Haus: Was können Sie tun?
Als SwissRe die Verwaltung der Liegenschaft an die Livit übertragen habe, sei der Umgang bereits rauer geworden. Dann hätten Gerüchte die Runde gemacht, das Haus werde umgebaut.
Was die Bewohner*innen an der Haldenstrasse erlebt haben, ist typisch. Grosse Veränderungen kündigen sich an. Je früher sich Mietende in solchen Situationen austauschen, desto vielfältiger sind die Handlungsoptionen.
Wichtig ist eine Risikoabschätzung. Wird meine Liegenschaft verkauft? Ist damit zu rechnen, dass die Eigentümerschaft eine Gesamtsanierung oder einen Ersatzneubau prüft? Wurden bereits Aufträge bezüglich Planung vergeben? Ist ein Abriss überhaupt möglich? Und gibt es im Haus oder in der Nachbarschaft Mieter*innen, die sich in die Planung einmischen und Alternativen prüfen wollen?
Sinnvoll ist ausserdem, dass sich die Mieter*innen zu einem frühen Zeitpunkt rechtlich absichern. Haben viele Mieter*innen im Haus eine Rechtsschutzversicherung, die die Kosten eines mietrechtlichen Verfahrens übernimmt? Können sie einen Rechtsfall im Notfall auch vor das im Kanton Zürich immer noch kostenpflichtige Mietgericht weiterziehen? Das schafft Sicherheit.
Der MV Zürich hat ein breites Fachwissen. Haben Sie den Verdacht, dass auch bei Ihnen bald verkauft, saniert oder abgerissen wird? Schleichen Architektur-Teams ums Haus? Zögern Sie nicht und melden Sie sich beim MV Zürich via Kontaktformular. Wir machen erste Abklärungen und besprechen mit Ihnen das weitere Vorgehen.
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