20.11.2025
«Es reicht nicht, einfach mehr Wohnungen zu bauen»
Verdichtungsprojekte stossen immer wieder auf Widerstand. Immobilienunternehmer*innen nutzen dies für den Vorwurf: Alle wollen mehr Wohnungen, aber niemand will verdichtet leben. Doch so einfach ist es nicht. Das zeigt eine Studie der ETH Zürich mit dem Titel "Öffentliche Akzeptanz und Politik für eine grüne und bezahlbare Innenverdichtung."
Interview von Samantha Taylor
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Michael Wicki, ETH Zürich
Michael Wicki ist Dozent am Departement Bau, Umwelt und Geomatik der ETH Zürich und Mitglied der Forschungsgruppe für Raumentwicklung und Stadtpolitik der ETH. Er hat die Studie "Öffentliche Akzeptanz und Politik für eine grüne und bezahlbare Innenverdichtung". geleitet und forscht zur Umgestaltung st.dtischer Gebiete, die sowohl stark vom Klimawandel betroffen sind als auch eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung von klimapolitischen Massnahmen spielen. Wicki untersucht, wie die Öffentliche Akzeptanz für Verdichtungsprojekte sichergestellt werden kann und welche Auswirkungen politische Massnahmen entfalten.
Michael Wicki, in einem Punkt sind sich die meisten einig: Wir brauchen mehr Wohnraum. Gleichzeitig sorgt Verdichtung oft für Widerstand. Woher kommt dieser Konflikt?
Grunds.tzlich ist Innenverdichtung – also die Verdichtung von Wohnraum auf bereits bebauten Flächen – von einer Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert. Das zeigt die Forschung und das bestätigen auch Abstimmungen. Das Raumplanungsgesetz 1, über das die Schweizer*innen 2013 abgestimmt haben und welches diese Verdichtung regelt, wurde mit über 60 Prozent angenommen. Dieser Wert ist auch in unseren Umfragen stabil geblieben. Die Mehrheit der Bev.lkerung findet Innenverdichtung auch heute noch sinnvoll.
Aber?
Sobald es um konkrete Projekte geht, sinken Akzeptanz und Zustimmung für Verdichtung. Der Widerstand wächst. Die Fachliteratur bezeichnet dies als Nimby-Phänomen. Was heisst: Not in my Backyard – also nicht in meinem Hinterhof. Wir beobachten zwar, dass dieses Phänomen vorkommt. Den Schluss zu ziehen, dass die Menschen grundsätzlich keine Verdichtung in ihrer N.he wollen, ist trotzdem zu einfach und falsch.
Inwiefern?
Wir konnten in unserer Studie zeigen, dass die Menschen nicht in erster Linie ein Problem damit haben, dass verdichtet wird. Auch nicht, wenn das in ihrer Nachbarschaft stattfindet. Sie st.rt vor allem, wie verdichtet wird.
Das heisst, es gibt eine «gute» und eine «schlechte» Verdichtung?
Es ist nicht schwarz-weiss, gut oder schlecht. Aber ja, man kann Verdichtungsprojekte besser oder weniger gut umsetzen. Man kann nachhaltig, ökologisch und sozialverträglich verdichten oder eben nicht. Die Art der Umsetzung hat Auswirkungen auf die Akzeptanz.
Was macht eine nachhaltige Innenverdichtung aus?
Man muss sich als Bauherrschaft oder Immobilienunternehmen bewusst sein: Findet Verdichtung in der eigenen Nachbarschaft statt, sind die Menschen kritischer. Das ist verständlich. Es spielen Ängste mit. Die Angst vor Veränderung. Aber auch die Angst vor Verlusten oder Verdrängung. Es ist wichtig, dass Bauherrschaften diese Themen berücksichtigen, benennen und Bewohner*innen oder die Nachbarschaft transparent über ihr Vorhaben informieren.
Können Sie das etwas konkretisieren?
Wird ein Gebiet verdichtet, stellen sich die Betroffenen immer ähnliche Fragen: Kann ich hier wohnen bleiben? Wie teuer werden die Mieten? Gibt es bezahlbaren Wohnraum? Wie sieht die soziale Durchmischung aus? Wie wird das Lebensgefühl? Wird der Lebensraum nachhaltig und ökologisch? Gibt es R.ume und Grünflächen? Wie sehen die Verkehrsanschlüsse aus etc.? Je nach Lebenssituation sind gewisse Punkte prioritärer als andere. Und manche dieser Sorgen sind sehr berechtigt und die Probleme real.
Sie sprechen das Thema der Verdrängung an?
Genau. Viele Menschen haben Angst, dass Innenverdichtung sie oder andere Leute aus ihrer Nachbarschaft verdrängt. Dass diese systematische Verdrängung bei Verdichtungsprojekten stattfindet, bestätigen Studien. Zwischen 2015 und 2020 wurden in Zürich über 14 000 Personen verdr.ngt. Wir wissen aus Erhebungen, dass vor allem Ersatzneubauten – wenn Siedlungen abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden – gewisse Gruppen stark benachteiligen.
Welche sind das?
Es sind vor allem einkommensschwächere Haushalte, ältere Menschen, Minderheiten und Alleinerziehende. Erhalten sie die Kündigung, ist es für sie meist schwierig, im Neubau oder in der Umgebung eine Wohnung zu finden, sofern sie nicht explizit bei der Planung mitgedacht werden. Die Konsequenz: Sie müssen wegziehen, aus dem Quartier, manchmal auch aus der Stadt in Agglomeration oder sogar aus der stadtnahen Agglomeration noch weiter raus. Diese Entwicklung kann dazu führen, dass sich die soziale Vielfalt im Quartier verringert und die Akzeptanz für Verdichtungsprojekte sinkt.
Es gibt Investor*innen oder auch Politiker*innen, die finden: Es gibt kein Recht darauf, in der Stadt zu leben oder allgemein im angestammten Quartier. Es brauche mehr Flexibilität.
Klar können nicht alle in der Stadt leben. Und klar muss man vielleicht mal den Ort wechseln. Aber darum geht es nicht. Es geht um die Frage, wie wir es schaffen, dass Wohnraum den Menschen dient, und dass Menschen, wenn sie dies wünschen, in einem Umfeld oder Zuhause bleiben können. Verdr.ngung kann soziale Ungleichheiten und die soziale Vielfalt in Quartieren beeinträchtigen. In Ländern wie Schweden oder Frankreich zeigen sich Entwicklungen, bei denen eine fehlende soziale Durchmischung mit Herausforderungen für das Zusammenleben einhergeht.
Und in der Schweiz?
In der Schweiz zeigen Studien, dass die Unterschiede zwischen verschiedenen sozialen Gruppen zunehmen, zum Beispiel bei Menschen mit wenig Einkommen, Geflüchteten oder Personen, die in afrikanischen Ländern geboren wurden. Das kann auch Kostenfolgen für den Staat haben. Aus demokratischer Sicht sollte darum die soziale Durchmischung immer Ziel sein.
Wie sieht konkret eine gelungene, nachhaltige Verdichtung aus?
Es braucht eine qualitätsvolle Innenentwicklung. Es reicht nicht, mehr Wohnungen auf demselben Raum zu bauen und damit – salopp gesagt – mehr Leute auf einem Haufen zu haben. Eine nachhaltige Verdichtung braucht soziale und ökologische Begleitung und eine qualit.tsvolle Innenentwicklung. Ein so verdichtetes Quartier hat ausreichend Grünflächen, besteht nicht nur aus Wohnungen, sondern aus einem Mix aus Gewerbe, Wohnen und sozialer Infrastruktur wie Cafés, hat öffentliche Begegnungsräume, verfügt über unterschiedliche Wohnungsschnitte, ist sozial und altersmässig durchmischt und verfügt über preisgünstigen Wohnraum.
Das sind ganz schön viele Punkte. Man könnte sich als Immobilienkonzern auch einfach auf den Standpunkt stellen: Es braucht mehr Wohnungen, dafür sind wir zuständig. Also bauen wir so, wie es uns passt und wie wir am meisten Gewinn erzielen.
Das kann man natürlich. Aber es gibt ein paar Punkte, die bedacht werden müssen. Immobilienunternehmen haben eine Verantwortung. Sie schaffen nicht nur Wohnungen, sondern Lebensräume. Gerade bei grossen Projekten und wenn es um Verdichtung geht. Ziel kann heute nicht mehr sein, einfach möglichst viele Wohnungen zu vermieten oder zu verkaufen, es geht darum, eine Identität fürs Quartier oder eine Nachbarschaft zu schaffen.
Ist sich die Immobilienbranche dieser Verantwortung tatsächlich bewusst?
Ich habe keine konkreten Zahlen oder Erhebungen, wie es um dieses Verantwortungsgefühl steht. Mein Eindruck ist aber, dass Immobilienunternehmen und Investor*innen mehr und mehr daran interessiert sind, die Bevölkerung einzubeziehen, um die Akzeptanz eines Projektes sicherzustellen. Eine hohe Akzeptanz und ein nachhaltiges Projekt sind auch für sie von Vorteil.
Was haben sie denn davon?
Da gibt es zwei Punkte: Erstens geht es um die Attraktivität eines Projekts. Die Menschen wollen heute nicht mehr einfach "nur" eine Wohnung in einer Schlafstadt beziehen. Sie wünschen sich mehr von ihrem Wohnort. Ein nachhaltiges Verdichtungsprojekt, das die oben genannten Punkte berücksichtigt, hat also unter Umständen bessere Chancen auf dem Markt. Zweitens hilft eine hohe Akzeptanz auch dem Gelingen. Akzeptieren Bewohner*innen oder Nachbar*innen das Vorhaben, sinkt die Wahrscheinlichkeit für Einsprachen und Verzögerungen. Das ist für viele Bauherrschaften heute ein zentraler Faktor.
Sie haben in ihrer Studie verschiedene Gebiete untersucht: Grossstädte, grössere Zentren in Agglomerationen und kleinere Agglomerationsgemeinden. Welche Unterschiede gibt es bezüglich der Qualität der Verdichtung in diesen Gebieten?
Die grossen Städte sind die Vorreiter. Sie haben am meisten Erfahrung. Hier besteht heute vor allem das Problem, dass es nur noch wenige Flächen gibt, die überhaupt verdichtet werden k.nnen. Die grossen St.dte stehen damit vor der Herausforderung, Platz zu finden und Innenverdichtung im Bestand vorantreiben zu können. Gleichzeitig kämpft man in den Städten auch seit l.ngerem mit dem Problem der Verdrängung und hat das Problem auf dem Radar. Man versucht durch gewisse Hebel, wie einen Anteil an preisgünstigen Wohnungen, etwas Gegensteuer zu geben.
Wie sieht es in den Zentren der Agglomerationen aus?
Der Druck aus den Städten verlagert sich mehr und mehr in diese Gebiete, weil die Leute aus den Städten wegziehen. Der Vorteil der Agglomerationen ist: Hier gibt es noch mehr Flächen, beispielsweise Industrieareale oder ähnliches, die umgenutzt und überbaut werden können. Es gibt also noch Möglichkeiten, diesen Druck etwas abzubauen. Dafür fehlt es an anderen Stellen.
Wo konkret?
Häufig mangelt es an personellen Ressourcen in den Bau- und Planungsabteilungen der Gemeinden. In vielen Verwaltungen gibt es zwar Fachwissen im Bereich der qualitativen Verdichtung, doch es fehlen die Stellenprozente und Kapazitäten, um dieses Wissen konsequent anzuwenden. In vielen Agglomerationsgemeinden steht nach wie vor die quantitative Schaffung von Wohnraum im Vordergrund. Gleichzeitig fehlt es häufig an finanziellen Mitteln und institutionellen Voraussetzungen, um Verdichtung strategisch zu planen und umzusetzen. Das Bewusstsein für eine qualit.tsvolle Innenentwicklung wächst, entwickelt sich aber sehr unterschiedlich – je nach politischem Willen.
Wie könnte man das ändern?
Das kommt sehr auf den Ort an. Die Politik ist hier sicher in der Verantwortung. Sie hat die Möglichkeit, einen sinnvollen Rahmen zu schaffen und so einzugreifen.
Das klingt etwas schwammig. Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Wir haben ein Forschungsprojekt, bei dem wir Grossstädte der Schweiz miteinander vergleichen, unter anderem Zürich und Genf. Es geht um die Frage: Wie oft verdichtet eine Stadt mittels Ersatzneubauten und wie oft findet eine sanfte Verdichtung statt, beispielsweise durch Aufstockungen, Anbauten oder die Umnutzung bestehender Gebäude – ohne Abbruch.
Was ist Ihre Erkenntnis?
An den Beispielen Zürich und Genf sieht man es deutlich: In Zürich werden deutlich mehr Ersatzneubauten realisiert als in Genf, was mit einer höheren Zahl an direkt verdr.ngten Personen einhergeht. In Genf hingegen gibt es Gesetze, welche die sanfte Innenverdichtung fördern und eine Mietzinskontrolle beinhalten. Das zeigt Wirkung.
Also braucht es mehr Regulierungen?
Nicht zwingend. Es kann schon ausreichen, bestehende Gesetze und Rahmenbedingungen konsequenter einzuhalten und in Form von personellen Ressourcen in das Thema zu investieren.
Bis Ende 2026 fehlen laut Studien in der Schweiz rund 50 000 Wohnungen: Wie können wir das bewältigen?
Ich mache keine Prognosen und klar ist, es gibt Handlungsbedarf. Aber es gibt auch Studien, die zeigen, dass wir mit den aktuell eingezonten Gebieten genügend Fläche zur Verfügung haben, um diese Bedürfnisse befriedigen zu können. Wichtig ist, dass wir diese Projekte vorantreiben können. In einer Art und Weise, die Wohnraum für alle schafft, mit den Klimazielen vereinbar ist und breit akzeptiert wird.